13. November 2025
Symbolbild.
(Quelle: NorthSky Films / Shutterstock.com)
Sie gilt als Meisterwerk der Kirchenmusik: Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach gehört zu den meistgespielten und gleichzeitig umstrittensten Oratorien des gesamten Repertoires. Sie erzählt Jesus Leidensgeschichte, Kreuzigung und Auferstehung. Der Verrat durch Judas und die Erzählung, Juden seien verantwortlich für Folter und Kreuzigung, wird zur musikalischen Version des Vorwurfs des Gottesmordes. In Bezug auf viele antijüdische Textstellen wird die Passion heute weitgehend einvernehmlich als problematisch eingestuft. Gleichzeitig werden bei den Aufführungen vorab kaum kritische Einführungen oder einordnende Programmhefttexte angeboten. Aufführende und Besucher*innen sind dem Antijudaismus häufig unvorbereitet ausgesetzt. Negative Stereotype können sich so verfestigen. Die Initiative Critical Classics hat unter dem Motto „Classics without Victims“ nun eine Neufassung des Librettos vorgelegt, die Ansätze zum diskriminierungssensiblen Umgang mit der Problematik vorschlägt. Das Projekt wurde durch die Amadeu Antonio Stiftung gefördert.
Berthold Schneider war von 2016 bis 2023 Intendant der Oper Wuppertal. Vor zwei Jahren initiierte er das Projekt „Critical Classics“ zur kritischen Auseinandersetzung mit diskriminierenden Inhalten in klassischen Opern und Oratorien. Ab der Spielzeit 2026/27 übernimmt er die Intendanz des Staatstheaters Cottbus. Mit ihm haben wir über die Kontextualisierung antijüdischer Textstellen, die Diskussion um Werktreue und diskriminierungssensible Aufführungspraxen gesprochen.
Belltower.News: Bachs Johannespassion wurde 1724 in Leipzig uraufgeführt. Was ist heute die Kritik?
Berthold Schneider: Die Probleme liegen in den Ursprüngen der Textvorlage, dem Johannesevangelium. Das hat eine gewisse antijüdische Färbung, die der politischen Situation entspricht, in der sich das Christentum befand, als sich die Religion formierte. Das Christentum hat sich ja nicht zu Lebzeiten Jesu gebildet, sondern erst etwa 100 Jahre später. Die Bibel ist aber kein Historientext, sondern ein religiöses Werk und darin finden sich eindeutig antijüdische Haltungen. Die Übersetzung Martin Luthers hat diese noch einmal verschärft. Bach hat die Texte übernommen und sie mit seiner Komposition dramatischer und plastischer gemacht. Eine Aufführung funktioniert anders als das Lesen eines Buches. Wenn ich in der Bibel lese, kann ich mir Gedanken machen und einen Satz hinterfragen. In einer Aufführung kann ich das nicht, denn da tragen lebendige Menschen einen Text vor, den man, an Bachs Musik gekoppelt, gar nicht distanziert oder mit Fragezeichen vortragen kann.
So entsteht in der Passion der Eindruck, die Juden als pauschale Masse seien per se aggressiv und hätten den Wunsch, Jesus zu töten. Der Text differenziert kaum, wer eigentlich gerade spricht. Sind es die Anführer, sind es alle Juden oder nur ein Teil? Römische Akteure und andere Handelnde werden hingegen namentlich benannt. Wir erfahren wenig über die Hintergründe: Warum sind die Juden aggressiv, was haben sie gegen Jesus? Es wird nicht einmal eine richtige Anklage vorgetragen. Das finden nicht nur wir bei Critical Classics problematisch, sondern auch viele Menschen, die das Werk singen und aufführen. Professor Gerhard Wegner, der Antisemitismusbeauftragte des Landes Niedersachsen, ist der Meinung, dass diese Texte eigentlich nicht gesungen werden sollten. Wenn man jüdische Organisationen fragt, bekommt man ebenfalls eine sehr eindeutige Antwort. Nicht ohne Grund wird das Werk in Israel fast nie aufgeführt. Man sollte sich fragen, ob man mit der Wiederholung von Stereotypen dazu beitragen möchte, dass eine antijüdische Stimmung entsteht.
War Johann Sebastian Bach Antisemit?
Da muss man klar differenzieren. Den Begriff Antisemitismus gab es zu seiner Zeit noch gar nicht. Es geht um historischen Antijudaismus, also die religiöse Ablehnung des Judentums. Die Bibliothek Johann Sebastian Bachs bestand zu einem guten Teil aus Büchern von Martin Luther. Luther hat im Laufe seines Lebens zu einer eindeutig antijüdischen Haltung gefunden. Es ist unwahrscheinlich, dass das nicht auch auf Bach abgefärbt oder ihn beeinflusst hat. Es wäre aber falsch zu unterstellen, dass Bach den Evangelientext mit einer antijüdischen Intention komponiert hätte. Ich glaube, er hat die Textvorlage genommen und verstärkt, was dort steht. Das Fantastische an seiner Kunst ist, dass sie niemanden kalt lässt. Es sind vor allem die Chöre, denen man sich nicht entziehen kann. Man muss sich vorstellen, dass diejenigen, die das Werk aufführen, monatelang Inhalte proben und singen müssen, die wirklich hochproblematisch sind.
Wie sind Sie die Neufassung angegangen? Haben Sie den Text einfach umgeschrieben?
Wir arbeiten grundsätzlich multidisziplinär. Dabei werden diejenigen Perspektiven gehört, um die es in den Werken geht. Im ersten Schritt stellen wir also ein Team zusammen und beziehen etwa Vertreter*innen der Religionsgemeinschaften, Historiker*innen und Musikspezialist*innen ein, Chordirektor*innen etwa. Nur wenn möglichst viele Expert*innen involviert sind, bekommt das Ergebnis eine gewisse Gültigkeit. Dann schauen wir gemeinsam, wo im Werk mögliche Ansatzpunkte vorhanden sind. Das war bei der Johannespassion die schwierigste Phase, die am längsten gedauert hat. Wir haben viel darüber diskutiert, welche Intentionen wir mit den Änderungen verfolgen wollen. Wir hätten zum Beispiel versuchen können, die Juden freundlicher darzustellen, indem wir Textteile rausschneiden. Das würde sich dann aber mit der Musik nicht mehr decken. Uns war klar, dass wir an der Musik nichts ändern wollten.
Das heißt?
Unser Ansatz wurde, zu klären, wer an welcher Stelle spricht und wer gemeint ist. Das bleibt im Original an vielen Stellen unklar und man gewinnt den Eindruck, das Böse kommt immer von den Juden. Wir wollen, dass man versteht, warum die Juden aggressiv sind. Die dargestellte jüdische Gemeinschaft besteht aus verschiedenen Akteuren. Ihre Anführer, die Hohepriester, stehen unter starkem politischen Druck im Verhältnis zur Besatzungsmacht der Römer. Sie hatten ein großes Interesse daran, den römischen Kaiser nicht herauszufordern. Pontius Pilatus provoziert, indem er unterstellt, Jesus sei der König der Juden. Das wäre Hochverrat, da dann der Kaiser nicht die höchste Autorität wäre. Die Juden reagieren also direkt auf die Äußerungen von Pontius Pilatus, die für sie sehr harte Konsequenzen nach sich ziehen könnten. Im Original wird das kaum deutlich und verspielt sich. Wir machen die Provokationen kenntlich. Die Juden haben einen nachvollziehbaren Grund, aggressiv zu sein, sie sind nicht einfach böse. Wir sehen, wie die Anführer aus politischen Gründen ihr eigenes Volk manipulieren, um Probleme zu verhindern. Diese Erzählung ist übrigens viel näher an der historischen Wahrheit und auch viel näher an den Darstellungen der anderen Evangelien.
Was heißt das konkret für den Text?
Wir haben nur etwa 80 von über 3000 Worten zur Änderung vorgeschlagen und über jedes einzelne sehr lange gesprochen. Uns war wichtig, dass die vorgeschlagenen Textänderungen nicht auffallen, also zur Sprache der Zeit Martin Luthers passen. Wir wollen Aufführungen ermöglichen, die möglichst wenig diskriminierend sind und das Werk dennoch vollumfänglich erfahrbar machen. Wir wollten keine Schärfe herausnehmen, aber die inneren Konflikte nachvollziehbarer machen und so Stereotype entkräften. Wir haben ein Libretto veröffentlicht, in dem man unsere Änderungsvorschläge transparent nachvollziehen kann. Alle sind farblich markiert und mit Kommentaren versehen, in denen wir beschreiben, warum wir die Stellen problematisch finden und wie wir zu den Änderungsvorschlägen gekommen sind. Man kann immer auch zu anderen Lösungen kommen, die vielleicht genauso gut oder besser sind. Wir wollen dazu ins Gespräch.
Welche Zielgruppen wollen Sie konkret ansprechen und welchen Umgang wünschen Sie sich mit der Neufassung?
Wir richten uns an Dirigent*innen, Chordirektor*innen und auch an Chormitglieder und Musiker*innen, also an Menschen, die das Werk zur Aufführung bringen wollen. Denen bieten wir eine konkrete, nachvollziehbare Handreichung an und fördern damit einen Diskurs. Es geht ja nicht allein um die Johannespassion. Im Opernbereich gibt es viele Stücke, die Jahrhunderte alt sind. Die Maßstäbe verändern sich, die Welt dreht sich weiter.
Im 17., 18., 19. Jahrhundert hat man im Musiktheater immer mitgedacht, für wen man spielt. Eine Opernaufführung an einem pietistischen Hof, an dem die Moralvorstellungen strenger waren, hat anders ausgesehen als die an einem libertären Hof. Man hat Rollen verändert, es gab einen sehr freien Umgang mit dem musikalischen und szenischen Material, zugeschnitten auf die jeweilige Zuhörerschaft. Erst später ist eine Aufführungspraxis entstanden, in der Text und Partitur fest und nicht verhandelbar wurden. Wir sollten uns fragen, ob Werktreue in diesem Sinne wirklich der einzig mögliche Zugang ist.
Es gibt andere Beispiele von Anpassungen an diskriminierungsfreie Sprache in der Literatur, etwa bei Werken von Astrid Lindgren oder Karl May. Die erzeugen viel Abwehr. Rechnen Sie mit Kritik?
Auf jeden Fall. Für viele Leute ist das ein Sakrileg. Ich kann das zum Teil gut nachvollziehen. Wir gehen da an Bibeltexte ran, also an Fundamente des Glaubens. Ich denke aber, dass es uns guttut, darüber zu reden, was diese Aufführungen bewirken. Das Sterben Jesu bewegt unglaublich. Die Trauer über den Tod des Heilands ist in der Johannespassion einfach fantastisch umgesetzt. Es ist ein großartiges Werk und wir müssen davon ausgehen, dass alles, was dort gesagt wird, eine große Wirkung bei den Zuhörenden entfaltet. Deshalb sollten wir überprüfen, welche Haltung wir haben, damit man dieses Werk weiterhin aufführen kann. Ich wünsche mir sehr, dass Juden problemlos in Aufführungen der Johannespassion gehen können und dass dort ein gemischtes Publikum sitzt.
Inzwischen ist das Werk aus seinem religiösen Kontext ja weitgehend herausgelöst und wird kaum noch in Gottesdiensten aufgeführt, wofür es eigentlich gedacht war. Zwischen dem ersten und dem zweiten Teil soll eigentlich eine Predigt stattfinden. Dort hätte man also erklärende Kommentare einfließen lassen können, die den Inhalt einordnen. Heute laufen die Aufführungen meist unkommentiert ab und der Zugang ist durch die alte Sprache erschwert. Ich habe es schon oft erlebt, dass das Publikum an bestimmten Stellen zusammenzuckt.
Ostern 2026 kommt bestimmt: Welche Vermittlung ist jetzt nötig, damit es dann diskriminierungsfreie Aufführungen der Johannespassion in neuer Fassung gibt?
Wir suchen aktuell den direkten Kontakt mit den Aufführenden, zum Beispiel über den Landesmusikrat Nordrhein-Westfalen, der ein zentraler Projektpartner von uns ist. Darüber erreichen wir sehr viele Musiker*innen und Chorleiter*innen. Die weisen wir auf unsere Fassung hin, damit sie sich damit auseinandersetzen können. Sie entscheiden dann, ob sie beim Original bleiben, Hinweise ins Programmheft drucken, vor der Aufführung eine Ansprache halten oder unsere Neufassung hinzuziehen. Es gibt viele Möglichkeiten.
Sie haben vor der Johannes-Passion bereits eine diskriminierungsarme Version der Zauberflöte herausgebracht, die rechtefrei für alle zur Verfügung steht, die die Oper aufführen möchten. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Uns schlägt häufig eine grundsätzliche Ablehnung von Änderungen entgegen. Das ist einfach Teil unserer Kultur. Wir finden es sinnvoll, grundsätzlich danach zu fragen, wie wir Werke aufführen wollen. Viele Regisseur*innen und Dramaturg*innen wissen von unserer Neufassung. Wir wissen von vielen Häusern, dass sie sich unsere Fassung herunterladen und anfangen, Änderungen vorzunehmen. Es ist ein Prozess, auch für uns. Es ist gar nicht wichtig, ob jemand unsere Fassung von A bis Z spielt. Wichtig ist, dass Menschen verstehen, wo Probleme liegen und wie man die umgehen kann.