Transvestigation: Wie eine transfeindliche Verschwörungserzählung die Demokratie gefährdet

Junge Mann und ältere Frau halten Händchen, gehen zusammen durch ein modernes Gebäude, symbolisieren Zusammenarbeit und Vertrauen.

11. September 2025


Brigitte Macron, französische First Lady, ist seit Jahren Opfer der Verschwörungserzählung.

(Quelle: GYG Studio / Shutterstock.com)

Seit Jahren wehrt sich Brigitte Macron, französische First Lady, gegen Verschwörungserzählungen, sie sei „eigentlich“ ein Mann. 2022 verklagte sie zwei Französinnen, die diese Behauptung wiederholt publik gemacht hatten. Macron bekam in erster Instanz Recht, die beiden Frauen wurden zu hohen Geldstrafen verurteilt, legten jedoch Berufung ein. Das Verfahren vor dem Gericht der höheren Instanz ist aktuell anhängig.

2024 griff die rechtskonservative und antisemitische US-Meinungsbloggerin Candace Owens die Verschwörungserzählung erneut auf und verbreitet sie seitdem mit immenser Reichweite. Allein auf YouTube folgen ihr knapp 4,6 Millionen Menschen. Owens behauptet nicht nur, Brigitte Macron sei ein Mann, zur Verschwörungserzählung gehört auch die Behauptung, sie sei eine Blutsverwandte Emmanuel Macrons, eventuell gar dessen Vater. Mitte Juli 2025 reichten die Macrons eine Klage wegen Verleumdung gegen Owens in den USA ein.

Die Frau des französischen Präsidenten ist bei weitem nicht das einzige Opfer des Phänomens „Transvestigation“. Prominente cis Frauen wie Michelle Obama, Jennifer Aniston, Madonna, Lady Gaga, Taylor Swift, die transfeindliche Schriftstellerin J.K. Rowling, aber auch cis Männer wie Harry Styles, Elon Musk, Bill Gates und selbst der rechte Antifeminist Andrew Tate sahen sich mit der Behauptung konfrontiert, sie seien „eigentlich“ trans und würden ihr „wahres Geschlecht“ verbergen. Doch nicht nur Prominente sind betroffen. Das zeigt die transfeindliche Hetzkampagne von BILD und NIUS gegen die Berliner Polizeibeamtin Judy S. Beide Blätter hatten im März dieses Jahres behauptet, sie sei eine trans Frau und habe männliche Polizeibeamte sexuell missbraucht. Die Behauptungen sind erwiesenermaßen falsch, beide Medien gaben Unterlassungserklärungen ab. Die Rufmordkampagne war dennoch reichweitenstark und erfolgreich.

Pseudowissenschaftliche „Beweise“ stärken misogyne und rassistische Weltbilder

Das Phänomen Transvestigation verbreitet sich seit etwa zehn Jahren in den sozialen Medien. Dahinter steckt Hass auf trans Personen, verknüpft mit frauenfeindlichen Ideologien und einem Geschlechterverständnis, das Geschlecht als unveränderlich versteht und ausschließlich auf Biologie reduziert. Selbsternannte „Ermittler*innen“ nehmen pseudowissenschaftliche „Analysen“ von Fotos und Videos vor. Sie suchen nach bestimmten körperlichen Eigenschaften, die beweisen sollen, dass einer Person ein anderes Geschlecht bei der Geburt zugewiesen wurde als das, in dem die Person lebt. Nach der transfeindlichen Logik geht es darum, Hinweise auf das „eigentliche“ biologische Geschlecht zu finden, das die Person betrügerisch verberge. Dabei werden normative Erwartungen an Körper und Aussehen gemäß einer „natürlich gegebenen“ binären Geschlechterordnung zugrunde gelegt, die misogynen Logiken folgen, die Vielfalt von Körpern negieren und von rassistischen Stereotypen durchzogen sind.

(Cis) Frauen, die als „zu groß“, „zu erfolgreich“ oder „zu stark“ wahrgenommen werden, nicht den weißen Standard-Schönheitsidealen entsprechen oder sich nicht entsprechend normativ verhalten, stehen in Verdacht, keine „echten“ Frauen zu sein und der Gesellschaft heimtückisch schaden zu wollen. Macht und Einfluss sind in antifeministischen Vorstellungen für Frauen nicht vorgesehen, also „unnatürlich“ – erfolgreiche Musikerinnen, Sportlerinnen, Politikerinnen oder Schauspielerinnen müssen also „eigentlich Männer“ sein. Cis Männer, die Opfer von Transvestigation werden, stehen meist auch im Zentrum anderer Verschwörungserzählungen von Machteliten mit angeblich geheimen Plänen zur Zerstörung der „natürlichen“ Gesellschaftsordnung. Dass Emmanuel Macron eine Frau liebt, die 24 Jahre älter ist als er selbst, scheint nur durch Täuschung erklärbar. Im Verständnis der „Transvestigators“ ist Transsein etwas Negatives und Krankhaftes, ein demütigendes Geheimnis, mit dem cis Personen angefeindet und verletzt werden können. Trans Personen werden per se als Bedrohung dargestellt – für cis Frauen, für die „natürliche“ Ordnung und für die Gesellschaft insgesamt. Behauptungen, sie seien manipulativ, gewalttätig oder pädophil, werden mal mehr, mal weniger deutlich formuliert.

Neues Phänomen aktualisiert altbekannte Ressentiments

Transvestigation geht auf alte homofeindliche Narrative zurück. Schwulen Männern wird seit Jahrhunderten unterstellt, sie gefährdeten traditionelle Geschlechterrollen und die heteronormative Kleinfamilie, verführten die Jugend, seien pädophil oder schlicht Betrüger, sofern sie ungeoutet leben. Viele schwule Männer waren aufgrund der Homofeindlichkeit der Gesellschaft lange gezwungen, ihre Sexualität geheim zu halten und mussten fürchten, gegen ihren Willen geoutet zu werden. Homofeindlichkeit ist heute keineswegs verschwunden, die abwertenden und pathologisierenden Narrative existieren fort und finden sich nun auch in transfeindlichen Diskursen. Der lange vergessene Begriff „invertiert“, im 19. Jahrhundert durch Mediziner*innen geprägt, um Homosexualität als „Umkehrung“ der „normalen“ Heterosexualität pathologisierend zu beschreiben, erfährt aktuell Konjunktur: Selbsternannte Detektiv*innen bezeichnen die Opfer ihrer transfeindlichen Kampagne als „inverts“.

Dem aktuellen Narrativ liegt die Auffassung zugrunde, trans Personen hätten kein Recht auf ihr Geschlecht oder auf Privatsphäre und „schuldeten“ ihren Mitmenschen die Mitteilung, dass sie trans sind. Gewalt und Morde, insbesondere gegen transweibliche Menschen, werden etwa damit gerechtfertigt, dass das Opfer ihr Transsein nicht offengelegt habe, die Täter also getäuscht hätte. Seit den 1960er Jahren konnten Angeklagte in den USA auf milde Urteile setzen, wenn sie „gay panic“, also panische Angst vor queeren Menschen als Motiv für Gewalt angaben.

Antisemitische Verschwörungserzählungen verleugnen und dämonisieren trans Personen

Das Transvestigation-Phänomen ist eine elitenfeindliche, strukturell antisemitische Verschwörungserzählung. Das heißt, sie funktioniert genauso wie Antisemitismus, erwähnt aber Jüdinnen*Juden nicht. Eng verknüpft ist sie mit weiteren ähnlichen Erzählungen, etwa mit „QAnon“, dem „großen Austausch“ oder dem „Deep State“. Trans Personen seien demnach Teil der geheimen Strategien politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Eliten oder würden durch diese instrumentalisiert, um die „natürliche Ordnung“, biologische Geschlechtergrenzen und die Familie zu zerstören. Manche Narrative beschreiben die sogenannte „Trans-Bewegung“ insgesamt als Erfindung jüdischer Finanzeliten, die die Geschlechter von Prominenten gezielt „tauschen“, um Gesellschaft und Nation zu schwächen. Dass trans Personen nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ausmachen und mit hoher Wahrscheinlichkeit Opfer und nicht Täter*innen von (sexualisierter) Gewalt werden oder der Umstand, dass keine der „verdächtigen“ prominenten Personen trans ist, finden kein Gehör in Kreisen, die davon überzeugt sind, die „Transideologie“ infiltriere die Gesellschaft oder übernehme gar „die Weltherrschaft“. Dämonisierung und Entmenschlichung einerseits, Verleugnung andererseits: Zur transfeindlichen Ideologie gehört es, trans Personen ihre Existenz abzusprechen und diese als Tarnung zu diffamieren.

Transfeindlichkeit als rechtsextreme Brückenideologie

Die Verschwörungserzählungen treffen auf die in den USA und Europa zunehmende Trans- und Queerfeindlichkeit, die bis weit in die Mitte der Gesellschaften verbreitet ist. Nach den Ergebnissen der aktuellen Leipziger Autoritarismus-Studie von 2024 stimmen 60 bis 70 Prozent der Deutschen transfeindlichen Aussagen zu. Transvestigation trägt zur Normalisierung menschenfeindlicher Ideologien der Ungleichheit bei und verbindet strategisch Gruppen und Milieus, die sonst kaum Schnittmengen haben. So finden etwa sogenannte „radikale Feministinnen“, die trans Personen als Gefahr für cis Frauen und als potentielle Vergewaltiger*innen diffamieren, gemeinsame Schnittmengen mit fundamentalistischen christlichen Gruppen, die sich gegen Frauenrechte, Selbstbestimmung und Abtreibung engagieren. Rechtsextreme und Rechtskonservative profitieren von antifeministischen und transfeindlichen Verschwörungserzählungen und setzen diese, unterstützt durch sogenannte „alternative Medien“ und rechte Think Tanks, strategisch als Mobilisierungswerkzeuge ein.

Demnach tragen „woke Ideologien“, die etwa Geschlechtergerechtigkeit oder sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung vertreten, zum kulturellen Niedergang und zur Schwächung von Männlichkeit und Nation bei, weil sie die angeblich natürliche Geschlechterhierarchie in Frage stellen. Trans-Panik, wie sie durch die Verschwörungserzählung Transvestigation verbreitet wird, legitimiert den Abbau von Grundrechten für trans Personen und transfeindliche Gesetze, etwa in den USA oder Großbritannien. In Deutschland droht aktuell eine teilweise Rücknahme von Regelungen des sogenannten Selbstbestimmungsgesetzes, das es trans und inter Personen seit November 2024 erlaubt, Namen und Geschlechtseintrag beim Standesamt schnell und unbürokratisch, ohne entwürdigende und teure psychologische Gutachten anzupassen. Die Bundesregierung plant eine Ausweitung der Speicherung und Weitergabe früherer Namen und Geschlechtseinträge an verschiedene Behörden, was trans, nichtbinäre und intergeschlechtlichen Personen einem noch höheren Diskriminierungsrisiko aussetzt. Interessenverbände wie der Bundesverband Trans* e.V. warnen vor den Folgen und fordern die konsequente Einhaltung des Datenschutzes in einer Zeit, in der immer mehr CSDs durch Rechtsextreme angegriffen werden.

Transvestigation schadet allen

Transvestigation-Kampagnen erlangen über Social-Media-Kanäle leicht große Reichweiten. Was auf den ersten Blick nach Promiklatsch und wilder Spekulation aussieht, verbreitet Falschinformationen und motiviert Nachahmende, selbst Hasskommentare zu posten oder offline Gewalt gegenüber Betroffenen anzuwenden. Emmanuel und Brigitte Macron etwa berichten von immensen Kosten sowie psychischen und emotionalen Belastungen, die die Auseinandersetzungen mit den falschen Anschuldigungen mit sich bringen. Dabei richten sich die Kampagnen nicht nur gegen einzelne cis Prominente, sondern auch gegen alle trans Personen, vor allem gegen trans Frauen. Queerfeindliche Gewalt nimmt seit Jahren zu. Das Phänomen Transvestigation zeigt eindrucksvoll, dass Trans-Hass auch cis Personen trifft und immensen Schaden für die gesamte Gesellschaft verursacht.

Grundrechtseinschränkungen, auf die antifeministische Kampagnen abzielen, treffen in erster Linie Frauen und trans Personen, sind aber Angriffe auf die Grundwerte der Demokratie insgesamt. Transfeindliche Verschwörungsnarrative sind wirksame Strategien, um autoritäre politische Strukturen zu etablieren und demokratische Politiker*innen sowie die Demokratie insgesamt verächtlich zu machen und zu destabilisieren. Demokrat*innen sind gefordert, die Mechanismen hinter solchen Kampagnen zu entlarven und die Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit für die Akzeptanz von Trans- und Intergeschlechtlichkeit zu intensivieren. Wenn es kein Problem oder Makel mehr ist, trans zu sein, und trans Personen breite Solidarität erfahren, haben entmenschlichende Strategien keine Chance mehr, Verbreitung zu finden.

Hier den Artikel weiter lesen…