Sächsischer Förderpreis: Jung Jüdisch, Engagiert

5. November 2025


Die Neue Synagoge Erfurt wurde am 31. August 1952 geweiht. Sie war der einzige Synagogenneubau in der DDR.

(Quelle: picture alliance/dpa | Martin Schutt)

In einem Büro oder in einer Geschäftsstelle besuchen kann man die Jüdische Allianz Mitteldeutschland nicht. „Wir haben keinen klassischen Sitz wie andere Organisationen“, erklärt Initiator und Sprecher Alexander Tsyterer. Der 22-Jährige studiert an der Universität Chemnitz Sensorik und kognitive Psychologie, lebt aber momentan in Berlin. Dort kann man mit ihm telefonieren. Die Allianz ist „ein großes Organisationsnetzwerk“, wie er formuliert, verbreitet vor allem in den vier mittel-ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Thüringen. Sie wolle „aktiven Menschen die Möglichkeit geben, ihre Sachen auf die Beine zu stellen“ und eine junge jüdische Community aufbauen.

Denn in seiner Altersklasse sieht der agile und meist vehement argumentierende Alexander in den jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik ein Organisationsdefizit, man könnte auch von einer Repräsentationslücke sprechen.

Er blickt zurück auf den Beginn der 1990-er Jahre. Zuvor hatte es in Deutschland nach dem Holocaust nur noch ein schwaches jüdisches Leben gegeben. Das galt nach 1945 in allen Besatzungszonen. Als 1952 in Erfurt auf dem Gelände der zerstörten alten Synagoge der erste Synagogenneubau nach dem Krieg in Deutschland eingeweiht wurde, diente das Gebäude nur einer kaum zweistelligen Gemeindemitgliederzahl als Kultstätte. Erfurt blieb der einzige Synagogenneubau in der DDR.

Das änderte sich mit der einsetzenden Auswanderungsbewegung aus der zerfallenden Sowjetunion. Im Frühling 1990 schuf die Noch-DDR erleichterte Einreisemöglichkeiten für sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge aus den Sowjetrepubliken. Bis 2004 kamen so etwa 220.000 jüdische Zuwander*innen nach Deutschland und vergrößerten die Gemeinden enorm. Alexander Tsyterers Eltern reisten erst 2001 ein. Sein Vater wurde in Russland geboren, seine Mutter in der mit dem russischen Überfall 2022 wieder bekannter gewordenen westukrainischen Stadt Czernowitz. Die Familie des Vaters war schon früher in die Ukraine gezogen, wo sich Alexanders Eltern kennenlernten. 2003 wurde nach der Übersiedlung nach Deutschland ihr Sohn geboren.

Junge Juden fühlen sich nicht abgeholt

Alexander sieht bei den jüdischen Gemeinden einen Mangel an Repräsentation und spricht verständnisvoll von einer Aufbauphase etwa bis 2010. Er selbst war als Vorbeter in der Chemnitzer Gemeinde aktiv und war zu der Zeit „nicht sonderlich religiös“. Heute lebt er ein religiöses Leben. Als junger Erwachsener nimmt er schon wahr, dass „die Gemeinden meist mit sich selbst beschäftigt sind“. Der Altersdurchschnitt ihrer Mitglieder liegt bei über 50 Jahren. „Es gibt kaum Angebote für junge Menschen“, bedauert er. „Jüngere fühlen sich nicht angezogen, überhaupt in die Gemeinde zu gehen.“ Das gelte vor allem für die Altersspanne zwischen 18 und 35 Jahren. Bis 18 könne man noch Schabbat-Fahrten, Wochenendausflüge oder Ferienlager mitnehmen, aber für Studierende oder junge Familien gebe es solche Integrationsangebote kaum noch.

Als politisch engagierter Mensch, wie er sich selbst bezeichnet, konnte Alexander Tsyterer nicht bei der Beobachtung solcher Defizite stehenbleiben. Mit 17 Jahren war er bereits der Jungen Union beigetreten. „Ich will Tacheless reden und sagen, dass ich einer der wenigen war, die die Situation verändern wollten! Wir brauchen eine Plattform, wo junge Jüdinnen und Juden ihre Form von jüdischem Leben ausleben können.“ Dann wird er doch deutlicher. Die Gemeinden seien in dieser Hinsicht nicht offen politisch aktiv. Sie repräsentierten zwar und sprächen mit Politiker*innen wie etwa sächsischen Landtagsabgeordneten. Aber wenn es beispielsweise um Antisemitismus im Hochschulbereich oder Parteipolitik geht, höre man nichts. Da fühlten er und Freunde sich als junge Menschen nicht abgeholt.

Aktiv werden gegen wachsende Bedrohung

Mit zweien dieser Freunde wurde es dann konkret. Sie riefen die Jüdische Allianz ins Leben, vorerst konzentriert auf das für sie überschaubare mittel-ostdeutsche Gebiet. Im Gespräch ist der eher kämpferische Ansatz zu spüren, der nicht nur über wieder wachsende Judenfeindlichkeit klagt. Anlass für die Gründung der mit JAM abgekürzten Allianz waren erneut einsetzende Raketenangriffe der Hamas auf israelische Grenzregionen im Dezember 2022, nachdem einer ihrer Terroristen getötet worden war. In Deutschland versuchten zuvor im November Unbekannte einen Brandanschlag gegen die Jüdische Gemeinde Dortmund, in Bochum wurde ein Molotowcocktail auf die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Herne-Hattingen geworfen, der allerdings sein Ziel verfehlte und eine Schule traf. Warum gehen wir danach nicht an die Öffentlichkeit, fragte sich die junge Gruppe.

Die Allianz ist denkbar heterogen zusammengesetzt und bietet Mitgliedern und Anhängern verschiedenster Parteien und politischer Richtungen eine Heimat. „Spätestens nach dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 haben wir gemerkt, was uns alle verbindet. Nämlich dass wir alle jüdisch sind und dafür gehasst werden, egal, ob wir rechts oder links sind“, erklärt Alexander Tsyterer. Seine Erregung steigert sich, wenn er aktuelle Erfahrungen schildert. Die Linkeren würden von ihren eigenen feministischen, queeren, linksprogressiven Communitys ausgeschlossen. Eine gute Freundin sei hinausgemobbt worden und musste stationär in der Psychiatrie behandelt werden. Auch bei seiner Merz-CDU sei nicht alles koscher, wenn sie mit dem Gedanken einer Zusammenarbeit mit der AfD spiele und die vielzitierte Brandmauer kaum noch erkennbar sei.

Kooperationen und mahnende Erinnerungsarbeit

Was sie tun, sei für vielbeschäftigte Studenten so etwas wie ein Vollzeitjob, beantwortet Alexander die Frage nach der praktischen Tätigkeit. Es ist vor allem aufwändige Organisationsarbeit. „Organisationen, Parteien, Universitäten sind glücklich, wenn sie mit uns zusammen etwas auf die Beine stellen können.“ Eine dieser Organisationen ist die ähnlich tickende weltweite universitäre Studierendenplattform Hillel, die zum Beispiel auch in Leipzig für die Bildung innerhalb der Community wirkt. Miteinander pflegt man aber auch Gemeinschaft und Geselligkeit wie die Feier des Schabbat. Oder einfach das Erlebnis einer schönen Zeit beim Grillen, „um zu zeigen: Wir machen keinen Hokuspokus!“.

Die Jüdische Allianz Mitteldeutschland ist in den reichlich zwei Jahren ihres Bestehens gewachsen und hat lokale Akteure und Partner in Leipzig, Dresden, Chemnitz, Jena, Potsdam oder Halle gewonnen. Deutlich wird das an den von ihnen organisierten Campuswochen an Hochschulen, die anderen Facetten jüdischen Lebens nahebringen sollen. Die Besucherzahlen steigen.

Als besonderes Ereignis gilt der Abend mit der Holocaust-Überlebenden Renate Aris an der TU Dresden. Anlass war der 80. Jahrestag der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945. Im August dieses Jahres feierte Aris ihren 90. Geburtstag. Viele wissen nicht, dass durch das bei der Zerstörung der Dresdner Innenstadt entstehende Chaos viele Juden und Jüdinnen der Deportation entgingen. Darunter der durch seine Tagebücher und das Standardwerk „Lingua Tertii Imperii“ über die Sprache des Dritten Reiches berühmt gewordene Romanist und Sprachwissenschaftler Victor Klemperer. Und eben auch Renate Aris mit ihrer Familie. Sie bekleidete später mehrere Führungspositionen in der Jüdischen Gemeinde Chemnitz und im Landesverband Sachsen. Die Dresdner Universität soll sehr glücklich über den Vorschlag der Jüdischen Allianz gewesen sein, und 190 Gäste und 120 Menschen auf der Warteliste bedeuteten eine gute Resonanz.

Nur noch 200.000 solcher Überlebenden gebe es weltweit, berichtet Alexander Tsyterer. „Wir machen uns große Sorgen, wie die Welt aussehen wird, wenn keine Zeitzeugen mehr existieren!“ Denn es werde viel Revisionismus betrieben, zuerst von „Hardcore-Typen“ wie Björn Höcke von der AfD. Den Studenten empören aber ebenso linke Akteure, die von Genozid in Gaza sprechen, ohne zu wissen, was dieser Begriff wirklich bedeutet. „Der Begriff wird dann nach Gefühl und nicht nach Tatsachen interpretiert.“

Antisemitismus und Kritik an Israel

Der sich daraus entwickelnde Gesprächspunkt ist der heikelste und entspringt der Frage, ob Tsyterer und die Allianz zwischen Antisemitismus und Kritik an der israelischen Regierung und ihrem Vorgehen im Gaza-Krieg unterscheiden könnten. Solche Kritik haben immerhin Moshe Zimmermann, Historiker und Antisemitismusforscher, der frühere Ministerpräsident Ehud Olmert oder die israelische Tageszeitung Ha`aretz geäußert.

Kritik sei immer willkommen, antwortet Alexander. „Wir kritisieren auch die Regierung, aber wir lehnen nicht das Existenzrecht Israels ab.“ Zur Verhältnismäßigkeit der israelischen Kriegsführung äußert er sich nicht, da die Allianz sich nicht als Sprachrohr der israelischen Politik sehe, sondern den Antisemitismus aufzeigen will, der durch die vermeintliche Kritik verursacht wird. Teile des linken Spektrums verträten Positionen, wonach israelische Opfer wegen ihrer Rolle als Okkupanten kein Mitleid verdient hätten, nicht einmal vergewaltigte Frauen. Sie hielten sich für progressiv, demonstrierten aber gemeinsam mit antifeministischen und homofeindlichen Islamisten. Antisemitische Narrative aus der NS-Zeit tauchten wieder auf, wie das von der zionistischen Weltverschwörung. Letztes Jahr wurde die Leipziger Universität von extremistischen linken Gruppierungen besetzt, die Einlasskontrollen durchführten, um vermeintliche „Zionisten“ auszusperren. Jüdinnen und Juden wurden dabei nicht eingelassen und teils angegriffen. „Aber wir haben Chuzpe genug, um über den Hass gegen uns zu lachen.“

Ein bisschen kann der Initiator der JAM auch über die Frage nach der Wirkung bisheriger Aktivitäten schmunzeln. „Wir können nicht messen, ob wir nach einer Veranstaltung zehn oder zwanzig Leute davon überzeugt haben, dass Antisemitismus schlecht ist und dass wir keine Monster sind, sondern auch Menschen.“ Man sehe aber, dass Leute kommen, Interesse zeigten und Fragen stellen. „Es gibt Bedarf!“ Den gibt es auch in den Jüdischen Gemeinden, die junge Generation besser zu integrieren. Aber noch wichtiger ist, dass Alexander Tsyterer öffentliche Aufmerksamkeit auf das junge jüdische Leben in Ostdeutschland lenkt – und laut „Nie wieder“ sagt.

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