6. November 2025
Hier lernen auch die Kleinsten, was Mitbestimmen bedeutet.
(Quelle: Sohland lebt)
Die Macht der Erwachsenen über Kinder entspringt ihrer Rolle als Erzeuger und Erzieher – vor allem aber den herrschenden Konventionen. Wie jede Macht ist sie vor Missbrauch nicht gefeit. Bis heute ist Herbert Grönemeyers Lied „Kinder an die Macht“ von 1986 so etwas wie die Hymne des fantasievollen Aufbegehrens gegen dumpfen Gehorsam und erzwungenen Anpassungsdruck. Aber wer ahnt schon, dass er oder sie nicht in eine Großstadt, sondern auf das oft so denunzierte „flache Land“ fahren muss, um einen Hauch der Grönemeyer-Zeile „Die Welt gehört in Kinderhände“ zu spüren? Noch weniger, dass dieses Ziel in einer Gegend liegt, wo die vergangenheitstrunkene AfD bei der Bundestagswahl fast 50 Prozent der Stimmen erzielte?
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Das Navi im Auto muss sich zwischen mehreren „Sohland“ entscheiden. Gemeint ist das bei einem für Lausitzer Verhältnisse gewaltigen Gebirgsmassiv, dem 455 Meter hohen Rotstein gelegene. Die 1300 Einwohner verteilen sich über fast 8 Kilometer Straße. Nördlich liegt Reichenbach in der Oberlausitz, das 2014 das stolze Sohland „gefressen“ hat. Die Eingemeindung haben einige Sohländer bis heute nicht verdaut. In der östlichen Umgebung Richtung Görlitz und zum ehemaligen Braunkohletagebau Berzdorfer See liegt die Gemeinde Markersdorf mit sieben Dörfern, darunter Gersdorf, Friedersdorf und Jauernick-Buschbach. Wichtig für ein Projekt mit dem Namen „AnfangAn – Kinderbeteiligung auf dem Land“.
Das Dorfcafé als offenes Vereinsdomizil
Der anvisierte Verein nennt sich „Sohland lebt“, und bei der schlichten Ortspassage scheint eine solche Ermunterung auch nötig zu sein. Das fanden auch einige Zugezogene, die sich ab 2018 fragten, was es brauche, um sich hier wohlzufühlen. Bezeichnenderweise eine reine Frauenclique, nicht bloß aus dem vergleichsweise nahen Berlin, sondern sogar aus Österreich oder England sind sie in das Lausitzer Idyll gekommen. Im Vorstand des 2019 gegründeten Vereins „Sohland lebt“ sitzt nur eine Bio-Sohländerin. Die absolute Dominanz von Frauenpower sei aber nicht konzeptionell begründet, sondern habe sich so ergeben, wird versichert. Man wünscht sich, dass auch ein Mann bei der nächsten Vollversammlung für den Vorstand kandidieren möge.
Das Domizil des Vereins liegt, wenn man so will, im Ortszentrum, das auch nicht gerade an eine Downtown erinnert. Dorfcafé nennt sich der bescheiden ausgestattete Ort an der ewig langen „Mittelhof“-Adresse, der aber einen legitim unbescheidenen Anspruch erhebt. Denn er ist zu einer zentralen Begegnungsstätte geworden, seit er renoviert und 2022 eröffnet werden konnte. Die Ressourcen fehlen, um täglich zu öffnen, aber Mittwoch, Freitag und Sonntag kann man kommen. Es gibt Kino, Puppentheater, verschiedene Workshops und Kurse traditionelles Handwerk, und einmal im Monat gibt es beim Musikstammtisch eine Jam-Session. Hier trifft man mit Elisa Hempel eine ausgesprochen agile Vorstandsfrau. Germanistik hat sie mal studiert, versteht aber auch etwas von Umweltwissenschaft, war viel in der Welt unterwegs, hat journalistisch „mit Leidenschaft“ vor allem für das Radio gearbeitet, auch mit Kindern, mit ihnen Theater gespielt und hält selber eine Familie mit vier Kindern zusammen.
Der Ort des Treffens verweist speziell an diesem Tag auf das Projekt des Vereins, das ihr in drei Jahren besonders ans Herz gewachsen ist. An diesem Abend im Oktober wird im Dorfcafé wieder einer der Bürgerstammtische stattfinden. Die hat der Ortschaftsrat in Kooperation mit dem Verein ins Leben gerufen. Einmal im Quartal finden diese Tischrunden im Café statt, „damit auch mal anderes Klientel kommt, das gern eine Suppe dazu isst“. Sonst monatlich im Gutshaus nebenan. Die Dame namens Manu an der Theke, die jetzt am Vormittag Kaffee und Tee kocht, wird am Abend eine zünftige ostdeutsche Soljanka zubereiten.
Vor allem aber ist der Beginn schon auf 18 Uhr gelegt worden, damit auch Kinder erscheinen können. Denn in Sohland und den Nachbardörfern mischen sich Kinder in ihre eigenen Angelegenheiten ein, bilden Kinderräte. „AnfangAn“ nennt sich dieses einzigartige Kinderbeteiligungsprojekt, das Elisa Hempel leitet. Es ragt aus den anderen Vereinsaktivitäten heraus. Zu denen zählt der „Sohlandkorb“ mit nachhaltig erzeugten Bio-Lebensmitteln, die im Laden um die Ecke verkauft oder auch digital über das „Open Food Network“ angeboten werden. Für Demokratiearbeit wird über die Förderrichtlinie Bürgerbeteiligung Sachsen eine Stelle finanziert, die sich drei Frauen teilen. Alles ohne Agitation und Didaktik, was „gut für die Unschuld und Wahrhaftigkeit des Angebots ist“.
Kinder entwerfen ihre lebenswerte Welt mit
Elisa Hempel ging es um etwas, das auch in unserer in das eigene Leiden verliebten Meckergesellschaft der Erwachsenen dringend vermittelt werden müsste. „Eine Welt entwerfen, die lebenswert ist! Das sind Kinder, die nicht meckern sollen, sondern machen!“ Die Idee für das Projekt „AnfangAn“ wurde 2022 geboren, als eine Jury den Nachbarort Friedersdorf im Rahmen des Bundeswettbewerbs „Unser Dorf hat Zukunft“ besuchte. Welche Rolle sollten Kinder bei der Präsentation spielen? Wer repräsentiert sie? „Es bräuchte doch einen Kinderrat“, so entstand bei Hempel und ihrer Kollegin die Idee einer Kinderbeteiligung. Sie selber fragen, was sie brauchen, sie mit kreativen Projekten zusammenholen. Elisa Hempel, Beate Büchner und Katja Baller sind für die Kinder- und Jugendbeteiligung im Verein zuständig. Schon vor der Finanzierung der Stelle starteten sie im Mai 2022 bei sehr geringer Förderung als Freiberuflerinnen mit dem Friedersdorfer Kinderrat.
Das ist nicht einfach in einer nach 1990 besonders von der Abwanderung junger Frauen betroffenen Region. Mehr als 15 Kinder pro Dorf sind erfahrungsgemäß nicht erreichbar. Wenn davon acht oder zehn durchhalten, muss man schon zufrieden sein. So fing es auch an im Dorf, wo Hempel und ihre Kollegin den Kindern unter anderem schon durch Kreativprojekte im Kindergarten bekannt waren und Vertrauen genossen. Man ging gemeinsam durchs Dorf, um zu hören, was wichtig ist. Voran stand der Wunsch nach einem eigenen Platz außerhalb der Grundstücke, wo man sich treffen könne, nach einer „Begegnungswiese“, wie der Markersdorfer Bürgermeister Silvio Renger formulierte. Um den umzusetzen, wurden Abstimmungsmethoden untereinander spielerisch mit Bällen eingeübt. Eine Fläche am Gemeindehaus bei der Kirche war Favorit. Bürgermeister Renger und der Ortschaftsrat hatten bei einem Dorfrundgang zuvor gemeinsam mit dem Kinderrat mögliche Flächen inspiziert. „Wir mischen die Gremien auf“, beschreibt Hempel die Stimmung bei den Kindern.
Mit dem Füller schrieb der demokratische Nachwuchs einen Antrag an den Gemeinderat. Dann begannen die sprichwörtlichen Mühen der Ebene. Was soll auf der Fläche errichtet werden? Ein Spielplatz kaum, den müsste der TÜV aufwendig genehmigen. Dicke Bretter zu bohren, sollte auch schon zu den Früherfahrungen mit der Erwachsenenwelt gehören. Ein längerer Prozess, den nicht alle durchhielten. Zwei Jahre dauerte es, bis eine Tischtennisplatte stand. Jetzt steht sie oft einsam, weil viele der Größeren anderen Hobbys und nachmittäglichen Terminen in der Schule oder beim Sport verpflichtet sind.
Kindliche Potenziale und ihre Bedrohungen
Wie entscheidungsfähig sind Kinder im Alter von 6-13 Jahren, die zum Teil noch nicht lesen können und sich über Icons verständigen? Bei den Kleineren gehe es zunächst darum, Gemeinschaftsprozesse in einer heterogenen Gruppe zu üben. Jeder darf reden und wird gehört, ein wanderndes Rede-Plüschtier moderiert gewissermaßen. Methodisch arbeiten, nicht zuerst ein praktisches Problem lösen, heißt es.
Hinreißend anzuschauen sind drei Kurzfilme, die die Größeren in einem Workshop gedreht haben und die von der Amadeu Antonio Stiftung finanziert wurden. Sie besuchten ihre Altersgenossen bei der Jugendfeuerwehr Gersdorf, wo ein Modellhaus gelöscht und eine Katze vom Dach gerettet wurde. In Friedersdorf fanden sie „einfach schrecklich“, was Leute wild wegwerfen, und sammelten vor der Kamera Müll. Richtig professionell interviewten sie Bürgermeisterin Carina Dittrich, weil in Reichenbach ein neuer Schulsportplatz gebaut wurde und dabei nicht nur Staub und Lärm stören, sondern auch Schulgarten, grünes Klassenzimmer und Spielplatz verschwinden. Die Filme wurden im Dorfkino Markersdorf, ebenfalls ein Jugendprojekt, welches Elisa begleitet hat, uraufgeführt.
Elisa Hempel ist bewusst, dass man oft mit Pizza oder Süßigkeiten, aber auch mit Action, Disko oder Kostümverkleidungen ködern muss. Und dass Inlineskating, ja sogar der Sportverein „Konkurrenz“ für den Kinderratstermin bedeuten, Social Media zunehmend auch. Immerhin hat der Friedersdorfer Kinderrat sich selbst per Füllerhandschrift das Dekret verordnet, bei Ratstreffen Handygebrauch zu untersagen. „Kinderbeteiligung müsste eher in die vorhandenen Vereinsstrukturen hineingebracht werden“, wünscht sich Hempel. Die Beteiligungsfrage sei keine Exklusividee des „AnfangAn“-Projektes, sondern eine Querschnittsaufgabe von Institutionen, Verwaltung, Politik, Schulen und dem Ehrenamt.
Für Erfolge sprechen einige Indizien. In Markersdorf hat Bürgermeister Renger eine monatliche Kinder- und Jugendsprechstunde eingerichtet und fragt bei manchen Bauvorhaben, zum Beispiel bei der konkreten Spielplatzgestaltung in der Gemeinde, den Nachwuchs nach seinen Interessen. Konferenzen mit Entscheidungsträgern in der Stadt Reichenbach und der Gemeinde Markersdorf wegen der Kinder- und Jugendbeteiligung, aber auch der Austausch mit ähnlich Engagierten, zum Beispiel überEvaluationsergebnisse,e haben zugenommen.
Abgenommen haben hingegen finanzielle Zuschüsse. In das Programm „Partnerschaft für Demokratie“ passt das Kinderbeteiligungsprojekt nach Änderung der Förderbedingungen nicht mehr ganz hinein.
Ende dieses Jahres läuft es ohnehin aus. Am 9. und 10. November gibt es im Dorfcafé eine rückblickende Ausstellung, eine Abschlussveranstaltung für die Erwachsenen und eine „Tour der Kinderräte“ für die Jüngeren. Mehr als nur eine Hoffnung ist, dass bei allen Beteiligten die Erfahrung von Selbstwirksamkeit bleibt: „Wenn man will, kann man etwas auf die Beine stellen!“
Die Verleihung des Sächsischen Förderpreis für Demokratie findet am 6. November in Dresden statt. Hier kannst du dich anmelden.