Mitte-Studie: Demokratie ja, aber bitte nicht für alle gleichermaßen

6. November 2025


AfD-Versammlung gegen Migration mit Beteiligung von Neonazis von „Der III. Weg“ und „Die Heimat“

(Quelle: RechercheNetzwerk.Berlin)

In Deutschland lehnt die Mehrheit Rechtsextremismus ab, aber die Abwehrkräfte der Demokratie bröckeln. Das ist die zentrale Botschaft der neuen Mitte-Studie 2024/25 der Friedrich-Ebert-Stiftung, die heute in Berlin vorgestellt wurde. Unter Leitung von Prof. Dr. Andreas Zick vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld haben die Forschenden rechtsextreme, menschenfeindliche und antidemokratische Einstellungen in der Bevölkerung untersucht. Der Titel ist Programm: „Die angespannte Mitte“.

Weniger Rechtsextreme, aber mehr Offenheit für autoritäres Denken

3,3 Prozent der Befragten teilen ein klar rechtsextremes Weltbild. Das ist ein deutlicher Rückgang gegenüber der letzten Studie 2022/23 (8 Prozent). Allerdings ist das noch kein Grund zur Entwarnung, denn rund ein Fünftel der Befragten zeigt ambivalente Haltungen. Der Graubereich von knapp 20 Prozent stimmt rechtsextremen Aussagen weder klar zu noch lehnt er sie entschieden ab, ein Einfallstor für antidemokratische Orientierungen.

Nationalchauvinistische Positionen sind sogar leicht gestiegen. Fast jede*r Vierte findet, Deutschland müsse „wieder zu Macht und Geltung“ gelangen, 15 Prozent wünschen sich „einen Führer, der mit starker Hand regiert“.

Bedrohung erkannt, aber zunehmend verharmlost

70 Prozent der Bevölkerung empfinden Rechtsextremismus als Bedrohung, 22 Prozent hingegen halten ihn in den Medien für „hochgekocht“. Wer so denkt, erkennt zudem keine eigene oder gesellschaftliche Verantwortlichkeit für die Auseinandersetzung damit an, ist selbst deutlich eher rechtsextrem eingestellt und billigt den Einsatz politischer Gewalt. Mit sieben Prozent sind dabei weniger Befragte als zuletzt der Auffassung, einige Politiker*innen hätten es verdient, wenn „die Wut gegen sie schon mal in Gewalt umschlägt“ (2020/21: fünf Prozent und 2022/23: 13 Prozent). 13 Prozent antworten aber zusätzlich „teils/teils“. Zwar ist die Zustimmung zu gewaltlegitimierenden Aussagen leicht gesunken, doch ein harter Kern von rund sieben Prozent rechtfertigt weiterhin körperliche Gewalt gegen „Fremde“.

Weniger Rechtsextreme aber mehr autoritäres Denken

Nur noch 52 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass die Demokratie „im Großen und Ganzen gut funktioniert“, ein Rückgang gegenüber 57 Prozent im Jahr 2022/23 und 65 Prozent im Jahr 2020/21. Gleichzeitig hält mit 24 Prozent mittlerweile fast ein Viertel die Demokratie für nicht funktionsfähig, so viele wie seit 2016 nicht mehr.

Die neue Mitte-Studie zeigt: Die Gesellschaft rückt nicht geschlossen nach rechts, aber sie wird kantiger. Einstellungen polarisieren sich stärker als in den Vorjahren. Befragte positionieren sich häufiger an den Rändern der Skala. Sie stimmen deutlicher zu oder lehnen entschiedener ab. Besonders auffällig ist der Rückgang bei „fremdenfeindlichen“, NS-verharmlosenden und sozialdarwinistischen Haltungen. Nur noch 15 Prozent unterstellen „Ausländern“ Sozialmissbrauch, während 40 Prozent ambivalent antworten und 45 Prozent diese Aussage klar zurückweisen. Auch die Verklärung Hitlers als „großen Staatsmann“ verliert an Rückhalt: Nur noch sechs Prozent teilen diese Sicht, halb so viele wie 2022/23.

Vorstellungen, wonach sich „der Stärkere durchsetzen“ solle oder es „unwertes Leben“ gebe, werden mit jeweils rund sieben Prozent ebenfalls seltener geäußert. Die Zustimmung zum israelbezogenen Antisemitismus hat noch einmal um rund 2 Prozent auf 17 Prozent zugenommen. Vor diesem Hintergrund ist zu unterstreichen, dass gerade bei jungen Befragten (3 Prozent) der Antisemitismus sehr gering ist, während vor allem die älteren Befragten (11 Prozent) diesem auffällig deutlicher zustimmen. Womöglich lässt sich dies durch antisemitismuskritische Bildungsarbeit der letzten Jahre erklären.

Stabil bleibt dagegen der autoritäre Wunsch nach einer „einzigen starken Partei, die die Volksgemeinschaft verkörpert“. Ihm stimmt weiterhin jede vierte Person zu. Weitere 23 Prozent meinen dies „teils/teils“. 43 Prozent fordern „endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl“.

Demokratie ja, aber bitte nicht für alle gleichermaßen

Die große Mehrheit (79 Prozent) bezeichnet sich als überzeugte Demokrat*innen. Zugleich sinkt jedoch das Vertrauen in die demokratische Praxis. 62 Prozent glauben, „die regierenden Parteien betrügen das Volk“.

Fast alle bekennen sich zu den Grundwerten der Demokratie, doch nicht alle meinen dasselbe, wenn sie von Gleichheit sprechen. 88 Prozent der Befragten sagen, die Würde und Gleichheit aller Menschen müsse in einer Demokratie an erster Stelle stehen. Gleichzeitig wächst die Bereitschaft, diese Prinzipien einzuschränken: Ein Drittel findet, man könne „im nationalen Interesse nicht allen die gleichen Rechte gewähren“. Das ist ein deutlicher Anstieg gegenüber dem vorigen Befragungszeitraum 2022/23, als noch 23 Prozent dieser Aussage zustimmten.

Ein Viertel meint, es werde „zu viel Rücksicht auf Minderheiten genommen“, und mehr als jede*r Zehnte lehnt es offen ab, ihre Grundrechte zu schützen.

Ökonomische Kälte: Menschenfeindlichkeit bleibt Teil der gesellschaftlichen Normalität

Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Transfeindlichkeit und Klassismus bleiben tief in der Mitte verankert: 36 Prozent unterstellen Geflüchteten Sozialmissbrauch. 31 Prozent der Befragten meinen, auch in Teilen, dass man Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagen solle.

Ganz oder in Teilen denken 41 Prozent, dass Rom*nja und Sinti*zze zu Kriminalität neigen. Jede sechste Person gibt an, bei der Politik Israels gut verstehen zu können, „dass man etwas gegen Juden hat“. 22 Prozent stimmen dieser Aussage in Teilen zu. 18 Prozent sind voll und ganz bis teilweise der Meinung, dass Jüdinnen*Juden durch ihr Verhalten mitschuldig an ihrer Verfolgung seien.

19 Prozent werten trans Menschen ab und 11 Prozent fordern: „Frauen sollten sich wieder mehr auf die Rolle als Ehefrau und Mutter besinnen“. Besonders verbreitet sind abwertende Haltungen gegenüber ökonomisch Schwachen. 36 Prozent stimmen etwa der Aussage zu, Langzeitarbeitslose machten sich „auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben“.

Leistungslogik und Autoritarismus als neue Brücke zum Extremismus

Gesellschaftliche Bewegungen erreichen immer schneller Europa und Deutschland. Aktuellstes Beispiel, das die Studie ausmacht: Ein libertärer Autoritarismus, der in den USA, aber auch in Europa und Deutschland, zunehmend an Deutungshoheit gewinnt. Hier vereinen sich autoritäre und radikal wirtschaftsliberale Weltanschauungen, deren gemeinsamer Kern unter anderem auf Ungleichwertigkeitsvorstellungen gegenüber verschiedenen, als fremd, wenig erfolgreich und wenig nützlich markierten Gruppen beruht. Ihnen wird vorgeworfen, die individuelle Freiheit zu bedrohen.

Ein Viertel der Befragten der Mitte-Studie teilt eine „libertär-autoritäre“ Ideologie, die Freiheit mit Selbstverantwortung verwechselt und Solidarität als Schwäche deutet. Diese Gruppe neigt signifikant häufiger zu Gewalt und rechtsextremen Haltungen. Wer in einer autoritären Erziehung sozialisiert wurde, zeigt ähnliche Muster. Gehorsam und Disziplin gelten für viele wieder als zentrale Bildungsziele.

Damit bedient der libertäre Autoritarismus auch das von der AfD gepflegte Narrativ eines angeblichen „Meinungstotalitarismus“, ein Kampfbegriff, mit dem die rechtsextreme Partei gegen Organisationen mobilisiert, die sich gegen Hass und Hetze im Netz einsetzen. Der sogenannte libertäre Autoritarismus funktioniert dabei als ideologische Brücke: Sein Freiheitsversprechen klingt liberal, trägt aber eine reaktionäre Grundidee in sich. Er bewegt sich scheinbar im Rahmen des Sagbaren und öffnet genau dadurch den Raum für die schleichende Normalisierung rechtsextremer Einstellungen. Daher bezeichnen ihn die Studienautoren als Brückenideologie in den Rechtsextremismus.

Klimafrage spaltet – und verstärkt Demokratiedistanz

Nur noch gut die Hälfte der Befragten sieht im Klimawandel eine „große Bedrohung“. Klimaschutz wird zunehmend gegen soziale Fragen ausgespielt, und wer klimapolitisch regressiv denkt, steht auch der Demokratie distanziert gegenüber. Die Idee, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung gegeneinander auszuspielen, ist längst Teil der politischen Polarisierung.

Ungleichheit als Risiko für die Demokratie

Bildung schützt, Ungleichheit gefährdet. Jüngere Menschen zeigen häufiger rechtsextreme Haltungen. Unter den 18- bis 34-Jährigen stimmen sieben Prozent rechtsextremen Aussagen zu. Ältere Menschen neigen zu Nationalchauvinismus. Unterschiede zwischen Ost und West bestehen fort, verschieben sich aber thematisch. Abgefragte „Fremdenfeindlichkeit“ und Rassismus liegen höher im Osten, Sozialdarwinismus und Klassismus sind im Westen weiterverbreitet. Wer unzufrieden mit der eigenen Lebenssituation ist, misstraut der Demokratie häufiger und normalisiert die AfD.

Bildung als demokratisches Rückgrat

61 Prozent der Befragten sehen Bildung als wichtigsten Schlüssel im Kampf gegen Rechtsextremismus. Gefordert werden mehr politische Bildung, Medienkompetenz und Räume, in denen gesellschaftliche Konflikte offen ausgetragen werden können. Mehr als die Hälfte der Menschen ist bereit, selbst aktiv zu werden, um Demokratie zu schützen, doch sie braucht verlässliche Strukturen, keine Lippenbekenntnisse.

Klare rechtsextreme Ideologien bleiben Minderheitenphänomene, aber ihre Bruchstücke wirken in die Breite. Demokratiefeindliche Denkweisen sind anschlussfähig geworden, befeuert durch Misstrauen, soziale Unsicherheit und das Fehlen politischer Bildung. Die „angespannte Mitte“ steht damit sinnbildlich für ein Land, das sich entscheiden muss, ob es seine Demokratie nur benennt oder sie tatsächlich schützt.

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