Der zweite NSU-Prozess: Das überfällige Verfahren gegen eine Terrorhelferin

5. November 2025


Angehörige der Opfer der NSU-Morde und Unterstützer*innen überreichen eine Petition gegen die Aufnahme von Beate Zschäpe in ein Aussteigerprogramm.

(Quelle: picture alliance / Anadolu | Halil SaÄırkaya)

Barbara John, die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer des NSU, ist erstaunt. Obwohl sich die Opfer und Opferangehörigen Aufklärung wünschen, sind sie nicht in den Prozess einbezogen worden. Sie kritisiert im Gespräch mit Belltower.News: „Der anstehende NSU-Prozess in Dresden wird bisher kaum von der Öffentlichkeit beachtet. Es ist zu hoffen, dass sich das ändert.“

Susann Eminger ist wegen Unterstützung der terroristischen Vereinigung NSU und Beihilfe zur besonders schweren räuberischen Erpressung angeklagt. Damit sind die Raubüberfälle des NSU gemeint, mit denen sich das Terrornetzwerk finanzierte. So wird der Angeklagten vorgeworfen, Zschäpe und Mundlos zu der Abholung eines Wohnmobils gefahren zu haben, mit dem der NSU seinen letzten – und schließlich missglückten – Banküberfall im November 2011 in Eisenach durchführte. Außerdem soll sie Zschäpe ihre Identität zur Verfügung gestellt haben, damit diese sich als Eminger ausgeben konnte. Zu diesem Zweck soll Eminger Zschäpe wiederholt ihre Krankenkassenkarte geliehen haben. Eminger soll nicht nur von den Raubüberfällen, sondern auch von den rassistischen Morden gewusst haben.


Was ist der NSU-Komplex?

Neonazis hatten unter dem Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) von den 1990ern bis zum November 2011 in der gesamten Bundesrepublik Gewalt ausgeübt. Der NSU hat zehn Menschen ermordet, neun von ihnen aus rassistischen Gründen: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Bei drei rassistisch motivierten Bombenanschlägen verletzten sie dutzende weitere teils schwer. Atilla Özer starb an den Spätfolgen. Auch bei den insgesamt 15 Raubüberfällen verletzten die Neonazis Anwesende teils schwer. Zwei Betroffene überlebten nur knapp.

Die Polizei ermittelte rassistischen Stereotypen entsprechend gegen die Überlebenden und Angehörigen und blendete ein rassistisches Tatmotiv weitestgehend aus. Medien folgten oftmals diesen rassistischen Narrativen. Verfassungsschutzbehörden waren auf verschiedenen Ebenen mit dem NSU verstrickt. Wegen dieser Hintergründe wird inzwischen meist vom „NSU-Komplex“ gesprochen.


Eminger werden, abseits der Anklagepunkte, aufgrund journalistischer und zivilgesellschaftlich-antifaschistischer Recherche weitere Unterstützungstaten des NSU zugeschrieben. Sechs Jahre jünger als Zschäpe, gilt sie als ihre enge Vertraute. Sie soll Zschäpe zusammen mit ihren Kindern und ihrem Ehemann André Eminger regelmäßig in Zwickau besucht haben, wo das Kern-Trio des NSU zwischen den Jahren 2000 und 2011 lebte. Nachdem Zschäpe im November 2011 das Wohnhaus in Zwickau in Brand gesetzt hatte, soll Eminger ihr Kleidung von sich zur Verfügung gestellt und ihr damit bei der Flucht geholfen haben. 2006 nutzte Zschäpe Emingers Identität, um bei der Polizei wegen eines Einbruchs und eines Wasserschadens im Haus auszusagen. Auch ist es möglich, dass es ein Kind der Emingers war, das Mitglieder des NSU zur Tarnung nutzten, etwa um Wohnmobile für ihre Taten anzumieten. 2001 soll Eminger zusammen mit Ralf Marschner, einem V-Mann vom Bundesamt für Verfassungsschutz und mutmaßlichem Unterstützer des NSU, an einer Schlägerei beteiligt gewesen sein. Auch hatte Mehmet O., der Überlebende des Bombenanschlags 1999 in Nürnberg, Susann Eminger auf einem Foto bei polizeilichen Ermittlungen erkannt.

Im NSU-Prozess in München war Susann Eminger als Zeugin geladen worden, hatte jedoch die Aussage verweigert. Da ihr Ehemann André Eminger zu den Angeklagten gehörte, hatte sie Zeugnisverweigerungsrecht.

Lebenslang oder Bewährung

Es mag irritieren, dass mehr als 25 Jahre, nachdem Mitglieder des NSU ihr erstes Opfer Enver Şimşek ermordeten, ein weiteres Verfahren gegen eine mutmaßliche NSU-Unterstützerin beginnt. Die Generalbundesanwaltschaft hatte bereits nach dem Öffentlichwerden des NSU im November 2011 ein Ermittlungsverfahren gegen Susann Eminger eingeleitet. Dass erst jetzt das Verfahren eröffnet wird, hängt vermutlich mit einer strategischen Entscheidung der verurteilten NSU-Täterin Zschäpe zusammen. Am Ende des Münchener NSU-Prozess im Juli 2018 war sie zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Dabei wurde die besondere Schwere ihrer Schuld festgestellt. Inzwischen ist Zschäpe seit ziemlich genau 14 Jahren inhaftiert. Es ist naheliegend, dass Zschäpe sich bemüht, möglichst zeitnah auf Bewährung freizukommen und damit tatsächlich „lebenslange Haft“ zu umgehen.

Zu diesen Bemühungen um Haftverkürzung scheint auch zu gehören, dass Zschäpe seit Mai 2023 versucht, in ein Aussteiger*innen-Programm aufgenommen zu werden. Das ist ihr im August diesen Jahres gelungen. Es ist denkbar unwahrscheinlich, dass sich Zschäpe tatsächlich von der extrem rechten Szene abgewendet hat. Naheliegender ist, dass sie sich am verurteilten NSU-Unterstützer André Eminger orientiert. Dieser hatte sich erfolgreich um die Aufnahme in ein Aussteiger*innen-Programm bemüht, wodurch seine ohnehin vergleichbar kurze Haftstrafe von zweieinhalb Jahren um zehn Monate verringert wurde. Auch bei ihm ist zu bezweifeln, dass er aus der extrem rechten Szene ausgestiegen ist.

Dass nun der Prozess gegen Susann Eminger beginnt, hat wahrscheinlich mit einer weiteren Bemühung um Haftverkürzung von Zschäpe zu tun. Im August und Oktober 2023 hatte Zschäpe gegenüber dem Bundeskriminalamt in fünf Sitzungen ausgesagt. Diese Aussagen sind nur in kleinen Auszügen der Öffentlichkeit bekannt. Zschäpe scheint jedoch Susann Eminger belastet zu haben. Diese Aussagen könnten ausschlaggebend dafür sein, dass nun der Prozess gegen Eminger aufgenommen wird. Folgerichtig wird davon ausgegangen, dass Zschäpe in Dresden als Zeugin vernommen wird. Maike Schaaf, die Pressesprecherin des Oberlandesgerichts in Dresden, bestätigte gegenüber Belltower.News, dass die Termine am 3. und 4. Dezember und am 29. Januar für die Aussage Zschäpes vorgesehen sind.

Gefahren und Chancen des Verfahrens

Termine vor Gericht können sich verschieben und auch die genauen Inhalte des Verfahrens sind nicht vorhersehbar – aber was bleibt, ist: Der Prozess gegen Eminger darf kein Vehikel für Zschäpes Haftverkürzung werden. Eine Haftverkürzung wäre ein fatales Zeichen und sowohl ein Signal an Neonazis, dass rassistisch motivierte Morde nicht relevant gesühnt werden, als auch an (potenziell) von neonazistischer Gewalt Betroffene: Ihre Sicherheit wird von staatlicher Seite nicht ernst genommen. Bisher war Zschäpes Strategie, nur Informationen zu geben, die ohnehin bereits bekannt oder nicht tatsächlich hilfreich sind, um weitere Hintergründe des NSU – z.B. die Gründe für die genaue Auswahl der Opfer – zu verstehen oder die Strafverfolgung von Unterstützer*innen zu ermöglichen.

Im NSU-Prozess in München hatten mehrere Opferangehörige Zschäpe dringlich aufgefordert, zur Aufklärung des NSU-Komplexes beizutragen. Ayşe Yozgat, die Mutter von Halit Yozgat, einem Schüler, der im Alter von 21 Jahren vom NSU in Kassel erschossen wurde, sagte vor Gericht zu Zschäpe: „Ich bitte Sie, dass Sie all diese Vorfälle aufklären“ und ergänzte: „Denken Sie bitte immer an mich, wenn Sie sich ins Bett legen. Denken Sie daran, dass ich nicht schlafen kann“.

Die vollständige Aufklärung des NSU-Komplexes ist ein zentrales Anliegen der Überlebenden und Opferangehörigen. Dazu gehört auch, dass vollständig ermittelt wird, wer genau am NSU beteiligt war und ihn unterstützt hat. Zu dieser Aufklärung könnte der Prozess eine Gelegenheit bieten. Im NSU-Prozess in München war es jedoch v.a. die Nebenklage – die Überlebenden und Opferangehörigen des NSU und ihre Anwält*innen –, die zur Aufklärung beitrugen und Druck aufbauten. Dass es nun im Dresdner Verfahren keine Nebenklage gibt, bedeutet, dass die Öffentlichkeit umso mehr gefragt ist, auf Aufklärung zu drängen. „Der NSU ist längst nicht vorbei“, sagt Barbara John. „Die Singularität des NSU darf nicht verloren gehen. Das Thema muss die Gesellschaft erreichen.“

Der Prozess in Dresden wird von der antifaschistischen Initiative NSU-Watch protokolliert (nsu-watch.info)

Charlie Kaufhold hat für die Amadeu Antonio Stiftung den NSU-Prozess in München aus geschlechterreflektierender Perspektive beobachtet. Im Februar 2026 erscheint Charlie Kaufholds Buch „Die Dominanzgesellschaft und der NSU-Komplex. Eine tiefenhermeneutische Untersuchung“ im Verlag Barbara Budrich (Open Access).

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