Sächsischer Förderpreis: Kampfsport für ein friedliches Miteinander

30. October 2025


Cooler Kampfsport mit Wertebindung

(Quelle: Athletic Sonnenberg)

Weder sein Name noch das äußerliche Erscheinungsbild lassen vermuten, dass der Chemnitzer Stadtteil Sonnenberg als Problemviertel gilt. Harmonisch konzipierte typische Gründerzeithäuser in Blockrandbebauung, mit der Josephs- und der Markuskirche zwei dominante Sakralbauten, eine gute, leicht ansteigende Berglage östlich des Hauptbahnhofs. Die wenigen Plattenbauten sind teils aufgehübscht worden, einige der in der DDR verfallenden Altbauten gelten aber immer noch als Abrisskandidaten. Denn nach der Währungsunion 1990 stürzten sich kapitalkräftige Westdeutsche nicht so eifrig auf die Häuser wie in lukrativeren Gegenden. Der Sonnenberg hat sich jedoch gewandelt: Einst ein Arbeiterviertel, ist er heute die Heimat vieler Menschen, die auf günstige Mieten angewiesen sind – darunter zahlreiche Migrant*innen.


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Den Ruf als Problemviertel will auch die 24-jährige Journalistik-Studentin Klara nicht stehenlassen: „Der Sonnenberg hat mit Herausforderungen wie Gewalt, Rassismus und Kriminalität zu kämpfen. Gleichzeitig ist er jedoch auch ein Ort lebendiger Nachbarschaft und engagierter Zivilgesellschaft.“ Nicht nur Migrant*innen, auch zahlreiche Studierende wohnen hier. Seit rund zwei Jahren gibt es unter anderem das soziokulturelle Zentrum IZDA. Gleichwohl kann der Stadtteil weitere Belebung gut gebrauchen. Noch vor zehn Jahren versuchten Neonazis, das Gebiet als „national befreite Zone“ zu vereinnahmen und die Auswirkungen der rassistischen Ausschreitungen von 2018 sind bis heute spürbar. Zu der positiven Entwicklung will auch der Sportverein Athletic Sonnenberg beitragen. Ein 2020 gegründeter Verein, der nicht allein dem sportlichen Austoben dienen will, sondern soziale und integrative Ziele verfolgt und die Stadtentwicklung befördern soll. „Be Avanti. Be social.“ lautet das Motto. Am 22. Juni dieses Jahres veranstaltete der Verein beispielsweise ein großes Kinderfest. Der populäre Fußball steht im Verein im Mittelpunkt, doch auch andere Sportarten haben Einzug gehalten, darunter Volleyball, Radfahren und Laufen.

Cooler Kampfsport mit Wertebindung

Jüngste Sparte bei den Athletics ist seit über zwei Jahren der Kampfsport im sogenannten Avanti Gym. Viele Menschen verbinden Kampfsport mit Vorurteilen wie Gewalt, aggressiven Männern und Neonazis, erklärt Klara. Besonders in Chemnitz nutzt die extreme Rechte den Sport zur Finanzierung und Rekrutierung junger Menschen und zur Vorbereitung ihrer Straßengewalt. Das bedeutet auch, dass viele Menschen ausgegrenzt bleiben. Migrant*innen, Andersaussehende, Linke, Queers zum Beispiel.

Es war also das Ziel, „gutes Kampfsport-Training mit Haltung“ anzubieten, wie die Kampfsportsektion des Vereins formuliert. Alle Personen, die sich an die Werte von Respekt, Toleranz und Solidarität halten, sind herzlich willkommen. Die Idee entstand aus dem Mangel an Alternativen, mittelmäßigen sportlichen Angeboten und den Verstrickungen mit extremen Rechten. Ziel war es, eine Gegenmacht im Kampfsport in der Stadt zu schaffen, die jungen Menschen eine progressive Alternative bietet. „Kampfsport ist ein sehr gemeinschaftlicher Sport, der viele Werte verkörpert, die wir teilen. Es geht darum, miteinander statt gegeneinander zu agieren und eine faire sportliche Auseinandersetzung sowohl auf als auch abseits der Matte zu fördern“, so Sprecherin Klara.

Der Athletic-Verein sei sehr schnell gewachsen, zähle heute etwa 350 Mitglieder, davon etwa 70 in der Kampfsportsektion. Eine ziemlich bunte Mischung, Chemnitzer und Zugezogene, vom Sozialarbeiter bis zur Security, Studierende und Sportbegeisterte mittleren Alters. Die Bandbreite reicht von Anfängern bis zu erfolgreichen Wettkämpfern. Der Mitgliedsbeitrag kostet zwischen 25  und 35 Euro im Monat, je nach Einkommen und Möglichkeit der Person.

Ein unscheinbares Gebäude am Rande des Sonnenbergs

Dass der Sonnenberg kein verschlafener Stadtteil ist und auch nicht mehr unbegrenzt preiswerte Flächen und Räume anbietet, zeigt die Quartiersuche der Kampfsportler. Ihr Domizil fanden sie am Rande des eigentlichen Stadtteils an der Uferstraße, eine Fortsetzung der insbesondere durch den Marx-Bronzekopf „Nischel“ bekannt gewordenen Brückenstraße. Ein Objekt, das äußerlich nicht gerade präsentationswürdig im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres 2025 erscheint. Das Erdgeschoss ist verschlossen und verlassen, eine Auto-Selbsthilfewerkstatt soll hier einmal Dienste angeboten haben. Eine Etage darüber sitzt eine Tanzschule, und durch den Hintereingang gelangt man in das oberste, von den Kampfsportler*innen genutzte Geschoss.

Man steigt über Schuhe, eine Sofaecke lädt zur Plauderei ein. Türen führen zum Bad und zum Geräteraum, ein Durchgang zum nicht allzu geräumigen Hauptsaal.

Das Seilgeviert eines Boxringes fällt zuerst auf, überall liegen Matten, an der von den Fenstern abgewandten Seite hängen Boxsäcke. Das Haus und das Nebenhaus gehören einem privaten Vermieter, berichtet Klara. Aber er soll froh gewesen sein, dass angenehme Mieter*innen das Haus erhalten und beleben, ja sogar in Eigenleistung den Unterboden neu aufbauen, Bodenbelag verlegen, ein Badezimmer mit Toiletten und Duschen installieren und die Wände streichen.

Die unscheinbare Außengestaltung wirft eine Frage auf: Haben die Kampfsportler*innen von Athletic Sonnenberg Angst vor rechten Angriffen? „Angst ist das falsche Wort“, antwortet Klara. „Die meisten von uns leben ihr ganzes Leben hier in der Region und sind mit Gewalt und Bedrohungen durch die extreme Rechte vertraut. Wir wissen, dass sie ein Auge auf uns geworfen haben. Besonders die Fußballsektion wird seit Jahren eingeschüchtert, bedroht und sogar angegriffen. Wir sind uns der Gefahr bewusst, aber es ist unsere Stadt, und wir werden uns nicht verstecken.“ Das Avanti Gym soll ein niedrigschwelliges und offenes Angebot für alle bieten. „Wir lassen uns nicht von Angst leiten, sondern von unseren Ideen, Hoffnungen und der Gemeinschaft.“

Selbstbewusstsein, notfalls Selbstverteidigung

Zum Gespräch stößt auch Tabea hinzu, nachdem sie nebenan Krafttraining und Dehnübungen absolviert hat. Was hier praktiziert wird, überfordert schon begrifflich die meisten der nicht mit Kampfkunst vertrauten Laien. Am ehesten hat man wohl schon etwas von Kickboxen oder dem Brazilian Jiu-Jitsu gehört. MMA steht für Mixed Martial Arts, eine gemischte Disziplin, die Techniken aus dem Stand- und Bodenkampf kombiniert und in Deutschland in den letzten Jahren immer größerer Beliebtheit erfreut. Ähnliches gilt auch für den Vollkontakt-Kampfsport Muay Thai, den auch als „Kunst der acht Gliedmaßen“ bezeichneten Nationalsport Thailands, oft schlichtweg als Thaiboxen bekannt.

Tabea drückt es in ihren eigenen Worten ähnlich aus wie Klara. Sie spricht von Selbstbewusstsein und Selbstbehauptung, auch von Selbstverteidigung im Ernstfall. Solche Fähigkeiten können FLINTA*-Personen brauchen. „Nicht nur Stärke einsetzen, auch Stärke kontrollieren, den eigenen Körper eingeschlossen“, formuliert sie einen Grundsatz. Die persönlichkeits- und umgangsverändernde Wirkung dieses Trainings sei ihr erst nach und nach bewusst geworden.

Auch Tabea betont den Anspruch der Haltungsvermittlung und der demokratischen Kultur. „Es geht darum, Menschen über den Sport zu erreichen, die sonst nicht durch klassische akademische Angebote wie Lesungen oder Demos angesprochen werden würden.“ „Der Sport ist ein bedeutendes gesellschaftliches Feld, in dem die Förderung von Demokratie und die Vermittlung von Werten eine wichtige Rolle spielen“, ergänzt Klara.

„Wir möchten eine Vereins- und Trainingskultur schaffen, die antifaschistische Werte sowie Respekt, die Auseinandersetzung mit Rassismus und Toleranz fördert und eine offene Fehlerkultur etabliert. Ziel ist es, eine konkrete demokratische Gegenmacht vor Ort aufzubauen und dem gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck sowie der gesellschaftlichen Spaltung entgegenzutreten. Wir wollen in die Offensive gehen, Alternativen aufzeigen und positive Perspektiven in einer strukturschwachen Region eröffnen“, so die beiden Vertreterinnen des Gyms.

Diese Überzeugungen, diese Postulate, veranlassten die friedfertigen Chemnitzer Kampfsportler*innen, sich bei der Amadeu Antonio Stiftung um den Sächsischen Förderpreis für Demokratie zu bewerben. Respekt, Toleranz, gute Fehlerkultur, aber eben auch Empowerment, speziell für Frauen. Auch die Auseinandersetzung der Männer mit ihren eigenen patriarchalen Verhaltensweisen ist ein zentraler Aspekt.

Das können die Chemnitzer schon als ideellen Erfolg nach drei Jahren ansehen. Sportliche Erfolge stören dabei selbstverständlich nicht, wenn die ersten Mitglieder nun auch bei überregionalen Wettkämpfen antreten. Wichtiger erscheint ihnen aber ihr Beitrag zu einem positiven Stadtklima und zur Lebensqualität. „Ohne solche Perspektiven wäre Chemnitz für viele kein Ort zum Bleiben“, resümiert Klara.


Die Verleihung des Sächsischen Förderpreis für Demokratie findet am 6. November in Dresden statt. Hier kannst du dich anmelden.

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