Sächsischer Förderpreis: Ein AfD-Oberbürgermeister als Geburtshelfer des „Solidarischen Pirna“

29. October 2025


Nach der Wahl des AfD-Bürgermeisters schloss sich die Gruppe zusammen.

(Quelle: Solidarischen Pirna)

Auch im kaum 25 Kilometer entfernten Dresden ruft der Ortsname Pirna gemischte Assoziationen hervor. Die Kleinstadt mit immerhin 40.000 Einwohner*innen lockt mit einer harmonischen Altstadt und auch als Tor zur Sächsischen Schweiz entlang des Elbtals Richtung Tschechien. Auf dem Sonnenstein gegenüber am linken Elbufer fielen fast 15.000 Häftlinge den Euthanasieverbrechen der Nazis zum Opfer. Militante Neonazis trieben im idyllischen Elbsandsteingebirge von 1997 bis 2001 als „Skinheads Sächsische Schweiz“ (SSS) ihr Unwesen, bevor sie wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt und relativ milde größtenteils zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden. NPD und AfD erzielen in der Touristenregion überdurchschnittliche Ergebnisse.


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Ausgerechnet in Reinhardtsdorf-Schöna, wo die NPD 2008 ein Viertel der Wählerstimmen holte, etablierte andererseits die Bürgerbühne des Staatsschauspiels Dresden ein enorm erfolgreiches Landschaftstheater mit Dutzenden Laiendarsteller*innen aus der Umgebung. Die Bürger*innen übernahmen bald das Projekt als „Sandsteinspiele“ selbst und setzen sich bis heute in ihren Stückentwicklungen außerordentlich kritisch mit Zeiterscheinungen auseinander, dort, wo sonst die Reichskriegsflagge weht. Überregional bekannt wurde die Pirnaer Aktion Zivilcourage. Vor allem Schüler gründeten 2023 bereits das Bündnis „SOE gegen Rechts“, SOE steht für den Landkreis Sächsische Schweiz/Osterzgebirge.

Schockreaktionen nach missglückter OB-Stichwahl

Es gibt also schon seit Jahren Bewegung in Pirna auch von zivilgesellschaftlicher Seite. Und doch schlummerte offenbar Potenzial für eine weitere sich selbst organisierende Gruppe, die vor zwei Jahren noch gar nicht existierte. Auslöser war ein wiederum auch überregional beachtetes einschneidendes Ereignis. Bei den Stichwahlen für das Oberbürgermeisteramt eine Woche vor Weihnachten 2023 erhielt der AfD-Kandidat Tim Lochner mit 38,5 Prozent die relativ meisten Stimmen. Die AfD konnte diesen Sieg nur feiern, weil die CDU-Kandidatin und der als eitel beschriebene Kandidat der Freien Wähler sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen zur Verhinderung Lochners einigen konnten oder wollten.

Sie sei nach der Zeitungslektüre am nächsten Morgen schon „ein bisschen verzweifelt“ gewesen und habe das auch körperlich gespürt, berichtet Imke. Sie vermutete, dass die meisten ihrer Freunde und Bekannten ähnlich fühlten. Spontan schrieb sie ihnen und bat um weitere Verteilung des Vorschlags, sich abends zu treffen und über Reaktionen zu beraten. Am Abend dieses 18. Dezember 2023 trafen sich trotz des Vorweihnachtsstresses etwa 20 Bürgerinnen und Bürger im Internationalen Begegnungszentrum der AG Asylsuchende SOE e.V..

Eine ziemlich bunte Mischung, die vorerst nur das Unbehagen, ja ein innerer Alarm ob des nunmehr offenkundig gewordenen Rechtsdralls auch in ihrer Heimatstadt vereinte: Junge Menschen, die sich teils schon in einer Initiative engagierten, Organisator*innen des Christopher Street Days, interessierte Einzelpersonen, Kirchenangehörige, Parteimitglieder von Linken, Grünen, SPD, einmal mehr aber nicht von der CDU.

Nach kurzer Sitzung verständigte man sich auf einen Mailverteiler und eine gründlichere Zusammenkunft im Januar. „Wir sind nicht allein, wir sind viele, die in die gleiche Richtung schauen, ohne Details schon zu kennen“, mit diesem Gefühl seien alle in die Weihnachtszeit gegangen, erinnert sich Initiatorin Imke. Es war die Geburtsstunde vom „Solidarischen Pirna“, inzwischen meist als „SoliPi“ abgekürzt. Am zweiten Treffen nahmen schon doppelt so viele Interessierte teil, darunter auch Geschäftsleute, Hoteliers, Firmen. Auf dringenden Wunsch aus der Gruppe  übernahm das soziale Projekt „Mosaik-Haus“ in Berggießhübel zunächst die Moderation. Langfristig kam diese dann durch das Kulturbüro Sachsen mit Sitz in Dresden, zu dessen wichtigsten Aufgaben solche Hilfs- und Beratungsleistungen gehören.

Zueinander finden, Fassungslosigkeit überwinden

Die zweite Zusammenkunft im Januar 2024 fand schon in Räumlichkeiten statt, wo man auch heute einige der spontanen Mitmacher der ersten Stunde wiedertrifft. Der gemeinnützige eingetragene Jugendverein Roter Baum stellte sie zur Verfügung, nicht eben ein Fünf-Sterne-Objekt am Rande der Altstadt Richtung Elbe. Fast alle in dieser Runde kommen aus Pirna, aber nicht alle sprechen ein gepflegtes Sächsisch wie Imke und Bernhard. Radek hört man kaum noch an, dass er vor 24 Jahren aus Tschechien einwanderte, aus einem Nachbarland, „wo Rechts kein Schimpfwort ist“, wie er sagt. Er habe früher auch die rechte Mitte gewählt, bekennt er, und dann einen Prozess auch der Selbsterkenntnis durchlebt. Seiner neuen Heimat hält er zugute, dass ihm selbst nie Ressentiments der Sachsen wie gegenüber anderen Ausländern begegnet sind.

Die Erinnerungen dieser Runde in diesem Herbst 2025 zeichnen den Findungs- und Verständigungsprozess des Anfangs nach. „Man kannte sich vom Sehen, man grüßte sich, man wusste, wo man ungefähr hingehört, aber wir hatten zuvor kaum miteinander gesprochen“, beschreibt Imke das Näherkommen. Dieses Zusammenführen der Verschiedenheiten im Sinne gegenseitigen Beistands habe anfangs im Vordergrund gestanden. So gesehen war die Teilnahme an einer ersten Demo des SOE gegen Rechts am 21. Januar und darauffolgend an der zum Holocaust-Gedenken vom 27. Januar eine Art Initialzündung. Mit dabei übrigens auch AfD-Lochners Amtsvorgänger, der populäre Oberbürgermeister Klaus-Peter Hanke.

Einige beschreiben ihre damaligen Beweggründe. Brigitte zum Beispiel ihr „großes Bedürfnis, sich nach der Wahl auszutauschen“. Sie sei „erschrocken, fassungslos, wütend und traurig zugleich“ gewesen, weil ihr die antimodernen, ausgrenzenden Ziele der AfD bewusst waren. Bernhard will sein Befinden damals eher mit Enttäuschung als mit Empörung beschreiben. „Man wollte so nicht Weihnachten feiern!“ Insbesondere Bürger*innen, die sich sonst nirgendwo aufgehoben und gehört fühlten, hätten es begrüßt, dass unterschiedliche Parteien und Menschen endlich etwas Gemeinsames machten. „Hier haben wir eine Gruppe, wo wir sein können, wie wir sind, wo wir uns wohlfühlen, weil wir etwas tun können!“

Eine ähnliche Enttäuschung wie Bernhard schildert Luise, eine überzeugte und praktizierende Christin. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, dass ein AfD-Kandidat an die Macht gelangt, obschon ihn eine Mehrheit der Pirnaer ablehnt. Das Verhalten der Konkurrenten in der Stichwahl sei das Problem gewesen. Zuversicht und Mut sei durch die Gruppe gestärkt worden, und nach den Entfremdungen der Corona-Zeit werde auch in Freundeskreisen wieder umgänglicher und offener diskutiert. Radek war von Anfang an wichtig, dass nicht nur eine Front gegen die AfD aufgebaut, sondern mit positiven Werten in die Gesellschaft hineingewirkt werde.

Pluralität, aber trotzdem verbindende Werte

Das aber erforderte nicht nur zu Beginn eine Verständigung auf gemeinsame Werte und die Formulierung von Zielen. Ein bisschen Programmatik also auch auf unterster Ebene. Ein halbes Jahr später standen am 9. Juni 2024 immerhin Kommunalwahlen an. Vielfalt sei und bleibe zwar ein „Aushängeschild“ von SoliPi, aber das mache die Konsensfindung nicht einfacher, stellt Imke nüchtern fest. Es habe mit Begriffsklärungen begonnen. Wer ist ein Nazi, wie definiert man Faschismus? Nach fast zwei Jahren spielten Differenzen hier fast keine Rolle mehr, man habe sich angenähert.

Luise räumt ein, dass es ihr zunächst seltsam vorkam, sich als Kirchgängerin mit der Autonomen Linken zu beschäftigen. Die aus Pirna nennt sie inzwischen eine „Supertruppe“. Auch an Gastauftritte bei einer Linken-Demo habe sie sich gewöhnen müssen, diese bezeichnet sie nun als „Horizonterweiterung“. Der Wunsch, „mit Menschen aus anderen Ländern angstfrei durch die Stadt zu gehen und sich nicht verstecken zu müssen“, verbinde alle. Nach solchen Leitlinien befragt, antwortet Bernhard, dass alle eigentlich das Gleiche wollten, nämlich Gutes für die Stadt. Und ein AfD-Oberbürgermeister bedeute nichts Gutes, zumal wenn er überdies im Ruf steht, alles andere als ein dynamischer Beweger für Pirna zu sein.

Was hat man seit Beginn des Vorjahres erreicht? Zuerst wird mit spürbarem Stolz über die arbeitsreiche Organisation und Absicherung der Demonstration „Pirna ist bunt“ bei der Vereidigung von OB Lochner gesprochen. Kamen tausend oder 1.500 Teilnehmer? Praktisch relevant ist die Unterstützung der progressiven Stadtratsfraktionen mit Bürgeranfragen. Als zählbarer Erfolg kann die Unterstützung des ebenfalls überregional beachteten CSD im vorigen Sommer gelten. Nachdem AfD-Lochner das Zeigen der Regenbogenfahne am Rathaus verbot und die Marienkirche diese daraufhin weit sichtbarer am Turm anbrachte, verlief der Pirnaer CSD ausgesprochen fröhlich und vor allem störungsfrei, anders als befürchtet. Auch bei Bündnispartnern wie dem AKuBIZ wird man als Gast eingeladen.

Dass damit die Köpfe noch nicht für humanistische Werte gewonnen sind, zeigte die Kommunal- und Europawahl am 9. Juni des Vorjahres. Die AfD lag mit einem Drittel der Stimmen an der Spitze, Linke, SPD und Grüne besetzen nur je einen Sitz im 26-köpfigen Stadtrat.

Ob das kleine Pirna sich gegen den derzeitigen Welttrend hin zu Autoritarismus und Selbstentmündigung wehren kann, erscheint also fraglich. Nicht einmal der sächsische Förderpreis für Demokratie würde dabei einen Erfolg garantieren. „Wir halten uns für nicht so überragend, dass wir uns selbst beworben hätten“, gibt sich Imke Günther bescheiden. Das hat das Kulturbüro Sachsen für SoliPi getan. Dann verfällt Imke lachend in Ironie. „Aber das Buffet bei der Preisverleihung ist super, da müssen wir auf jeden Fall hin! Und dann gibt es meistens einen sehr schönen Redebeitrag und Kultur und Musik sowieso!“ Das klingt nicht nach einem verbissenen, sondern eher fröhlichen Kampf gegen Rechts in Pirna.


Die Verleihung des Sächsischen Förderpreis für Demokratie findet am 6. November in Dresden statt. Hier kannst du dich anmelden

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