16. September 2025
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Dunja Hayali hat Recht: So rechtsextrem & menschenfeindlich war Charlie Kirk
von Annika Brockschmidt | Sep. 16, 2025 | Analyse
Abtreibungen seien schlimmer als der Holocaust, prominente schwarze Frauen hätten nicht die nötige „Gehirnkapazität“, um ernst genommen zu werden, und müssten einer „weißen Person den Platz stehlen“, um Erfolg zu haben, der rechtsextreme Verschwörungsmythos des „Great Replacement“ sei real: Charlie Kirk war ein rechtsextremer Aktivist, der sich menschenfeindlich äußerte. Jemand mit Einstellungen, die Teile der AfD moderat erscheinen lassen, wie der Politikwissenschaftler Tarik Abou-Chadi anmerkte.
Die ZDF-Moderatorin Dunja Hayali stellte das lediglich sachlich fest, und verurteilte gleichzeitig seine Ermordung. Für den Ausspruch dieser Wahrheit – dass man den Mord an Kirk verurteilen kann, ohne sein Leben zu feiern oder zu verharmlosen, wird sie durch eine rechtsextreme Online-Hetzkampagne massiv bedroht – Morddrohungen inklusive – und muss sich jetzt aus der Öffentlichkeit zurückziehen.
Annika Brockschmidt hat die Ansichten und das Geschäftsmodell von Charlie Kirk analysiert – und wie er zum Märtyrer gemacht werden soll.
Rechts seit der Schule
Am 10. September 2025 wurde Charlie Kirk, der Gründer von Turning Point USA (TPUSA) und Unterstützer Donald Trumps, während eines Auftritts an der Utah Valley University erschossen. Kirks politische Karriere begann schon in der Schule, sagt Matthew Boedy, Professor für Rhetorik an der University of North Georgia. Boedy forscht seit Jahren zu Kirk und TPUSA. Bereits als Schüler schrieb Kirk einen Artikel für das rechtsradikale Medium Breitbart. Er bewarb sich bei der Militärakademie West Point – ohne Erfolg. Kirk behauptete, sein Platz sei durch Affirmative Action (Maßnahmen, die Nachteilen für marginalisierte Gesellschaftsgruppen und Diskriminierung entgegenwirken sollen) an eine weniger qualifizierte Person gegangen, „die ein anderes Geschlecht oder Überzeugung hatte“.
Es ist eine Geschichte, die so wahrscheinlich nicht stimmt, erklärt Boedy. Aber auf diesem Narrativ baute Kirk seine Karriere auf: Es verschaffte ihm Zugang zu Fox News, lieferte ihm Aufmerksamkeit bei Tea-Party-Events und schließlich von Republikanischen Großspendern, so Boedy. 2012 gründete Kirk im Alter von 18 Jahren mit dem Ex-Geschäftsmann und Tea-Party-Aktivisten Bill Montgomery TPUSA. Heute hat TPUSA mehr als 850 Ortsgruppen an Universitäten landesweit, mit einer Präsenz an 3500 Campussen.
Gezielte Provokationen – getarnt als „Debatte“
Kirk trat mit TPUSA an Universitäten auf, von denen er behauptete, sie seien linksradikale Hochburgen, an denen Studierende indoktriniert würden – eine beliebte Erzählung der US-Rechten. Bei seinen Auftritten setzte er auf Konfrontation. Die Videos der Debatten, die Kirk veröffentlichte, gingen viral: „Das Modell TPUSA war von Beginn an auf Clickbait und Outrage ausgerichtet“, sagt der Kultur- und Medienwissenschaftler Simon Strick von der Universität Potsdam: „Kirk und TPUSA haben auf digitale Provokationsformate gesetzt, die schon vorher in der Netzkultur populär waren. Speziell war es das Change-my-mind- oder Prove-me-wrong-Format, das viele rechte Youtuber wie Steven Crowder in den 2010er Jahren popularisierten.”
Kirk habe dieses Format professionalisiert: „Er ging auf irgendeinen Unicampus mit vorbereiteten Provokationen – Abtreibung ist Holocaust, Islam ist anti-amerikanisch, Kirche und Staat sollen nicht getrennt werden, Schwarze haben niedrigeren IQ, etc. – und sendete dann seine besten Momente als Youtube-Video – jene, wo er meist jüngere, unvorbereitete oder einfach höflichere Menschen mit Schnellsprechen und Scheinargumenten überrannt hatte.“ Die Videos tragen reißerische Titel wie „Charlie Kirk zerstört Woke Lügen“.
Die Lüge, dass Kirk Debatten liebte – es war Verzerrung
Nach seiner Ermordung wurde Kirk von J.D. Vance, aber auch dem Demokraten Gavin Newsom, als Verteidiger der politischen Debatte gelobt. Das habe wenig mit Kirks Vorgehen zu tun, sagt Strick: „Das Geschäftsmodell ist nicht Debatte, sondern das Vorführen Anderer in einem unfairen Austausch für die besten Momente, die dann die Richtigkeit der Ideologie bezeugen sollen.” Das falle zwar unter Meinungsfreiheit, sagt Strick, „andererseits ist es eine Radikalisierungsmethode. Bei Kirk waren das, im Trend der zunehmenden Faschisierung, immer extremere Positionen. Das Kirksche Geschäftsmodell bestand im Kern darin, rechtsextreme oder rassistische Punkte als „Debatte“ darzustellen. Sein Geschäft war die Verzerrung“, so Strick.
Kirk selbst radikalisierte sich zunehmend: 2016 war er als Assistent von Trumps Sohn Don Jr. tätig, TPUSA wurde Teil der MAGA-Bewegung und mobilisierte auch im Wahlkampf 2024 für Trump. Während er am Anfang seiner Karriere noch als säkularer Neokonservativer auftrat, wandte er sich 2019 dem Christlichen Nationalismus zu, sagt Brad Onishi, Religionswissenschaftler und Autor des Buches „Preparing for War: The Extremist History of Christian Nationalism“, dem Volksverpetzer: „2022 begann er darüber zu sprechen, dass es so etwas wie eine Trennung von Kirche und Staat nicht gibt.“ Kirk passte auch die Vermarktung seiner Organisation an:
Der christlich-nationalistische Schwenk
„Er änderte das Unternehmensleitbild, sodass sie nun eher eine traditionalistische Organisation für ‚Familienwerte‘ als eine libertäre Organisation war“, so Onishi. Kirk bekannte sich zum „7 Mountains Mandate“ – der theokratischen Überzeugung, dass Christen alle Bereiche der Gesellschaft unter ihre Kontrolle bringen müssen. Das Re-Branding sei eine „enorme Geschäftsmöglichkeit“ gewesen, betont Boedy:
„Dadurch wurde das Publikum von TPUSA auf alle Bevölkerungsgruppen und Altersklassen ausgeweitet. Als COVID ausbrach, wurden Unis geschlossen. Also ging Charlie in die Kirchen.” Kirks christlich-nationalistische Wende war für ihn von Erfolg gekrönt: „Seine Hinwendung zum Christentum steigerte seine Popularität und Reichweite”, sagt Onishi: „Mit der Gründung von TPUSA Faith 2023 gelang es ihm, tausende von Pastoren und Kirchen zu erreichen”. Politische Mobilisierung von der Kanzel – eine moderne Version dessen, was der evangelikale Prediger Jerry Falwell mit seiner 1979 gegründeten Organisation „Moral Majority“ erreicht hatte.
Kirk war auch unter anderen Rechten verhasst
Kirk war kein Verteidiger der Meinungsfreiheit, sondern er stellte Andersdenkende an den Online-Pranger: TPUSA führt eine „Professor Watchlist”, auf der linkes oder liberales Lehrpersonal an Universitäten gemeldet werden kann. Die Betroffenen wurden zum Ziel von Gewalt- und Morddrohungen. Kirk habe „Meinungsfreiheit genutzt, um seine Plattform aufzubauen“, sagt Boedy. „An Redefreiheit für alle war er nicht interessiert.“ TPUSA hatte Boedy auf ihre „Watchlist“ gesetzt, nachdem dieser sich 2016 gegen das verdeckte Tragen von Waffen an Universitäten ausgesprochen hatte. Für das Recht auf Waffenbesitz, sagte Kirk 2023, müsse man leider auch Tote in Kauf nehmen. Wenn Gewalt seine politischen Gegner traf, hatte er wenig Mitgefühl:
Als ein Rechtsextremer 2022 den Ehemann der Demokratin Nancy Pelosi mit einem Hammer schwer verletzte, machte Kirk Witze: Ein „Patriot“ solle seine Kaution bezahlen (Kirk schob nach, er würde den Angriff nicht gutheißen). Über Joe Biden sagte er 2023: „Biden ist ein stümperhafter, von Demenz befallener, korrupter Tyrann mit Alzheimer, der ehrlich gesagt wegen seiner Verbrechen gegen Amerika ins Gefängnis gesteckt und/oder zum Tode verurteilt werden sollte.“ Hinrichtungen, fand Kirk, sollten öffentlich stattfinden und im Fernsehen übertragen werden. Mit seinen Mit-Panelisten (darunter der Rechtsextremist Jack Posobiec) diskutierte er darüber, ab welchem Alter Kinder diese öffentlichen Hinrichtungen sehen sollten.
Kirk selbst hatte Feinde, die noch extremer waren als er
Kirk selbst hatte Feinde, die noch extremer waren als er: unter anderem den Holocaustleugner Nick Fuentes und seine Fans, die sich „Groyper“ nennen und die TPUSA-Veranstaltungen störten, um Kirk bloßzustellen. „Sie fanden, er war nicht rassistisch genug. Sie wollen ein Weißes Amerika.“ Und: „Sie verfolgten ihn auch, weil er damals noch nicht komplett gegen gleichgeschlechtliche Ehe war – das ist nicht mehr der Fall“, sagt Boedy und ergänzt:
„Kirks Antwort auf die ‘Groyper Armee’ war, sich ihnen anzupassen: Er war rechtsextrem in Sachen Einwanderung, redete von einem Krieg gegen Weiße Menschen.” Kirk lud White Supremacists in seine Show ein und nutzte eine Grafik der White Nationalist Organisation American Renaissance, um den rechtsextremen Verschwörungsmythos vom „Großen Austausch” zu bewerben. Er äußerte sich mehrfach rassistisch, etwa als er behauptete, dass „herumstreunende Schwarze zum Spaß weiße Menschen ins Visier nehmen“ würden. Auch antisemitische Bemerkungen finden sich.
„Juden sind unter den größten Finanziers von Ideen des kulturellen Marxismus.“ – Kirk
So sagte Kirk 2023: „Juden sind unter den größten Finanziers von Ideen des kulturellen Marxismus“ – kultureller Marxismus ist eine antisemitische Verschwörungstheorie. Abtreibung bezeichnete er als „8-mal schlimmer“ als den Holocaust. Auch Islamfeindlichkeit war ein zentraler Bestandteil von Kirks Politik. Im September 2025 schrieb er: „Der Islam ist das Schwert, mit dem die Linke Amerika die Kehle durchschneidet.“ Er forderte Nürnberger Prozesse für Ärzte, die geschlechtsangleichende Gesundheitsversorgung für trans Menschen bereitstellen.
Trans Menschen bezeichnete Kirk 2023 als „pulsierenden Mittelfinger gegen Gott“ und „Abscheulichkeit“. Homosexualität verglich er mit Alkohol- oder Drogensucht. Einen Bibelvers, der die Todesstrafe für Homosexuelle fordert, nannte er in einem Gespräch über eine Youtuberin, die mit der Bibel argumentierte, um Toleranz für queere Menschen zu bewerben, „Gottes perfektes Gesetz in sexuellen Angelegenheiten“. Kirk behauptete, die USA befänden sich in einem „spirituellen Krieg“ zwischen rechtgläubigen Christen und Demokraten, denn die „Demokratische Partei unterstützt alles, was Gott hasst“.
„Man muss sein politisches Projekt nicht beschönigen, um seine Ermordung zu verurteilen.“
In deutschen Medien wurde Kirk nach seiner Ermordung zunächst als „konservativer Aktivist“ bezeichnet – eine Verharmlosung. „Charlie Kirk war ein rechtsextremer Rassist, Sexist und Faschist. Jemand mit Einstellungen, die Teile der AfD moderat erscheinen lassen. Man muss sein politisches Projekt nicht beschönigen, um seine Ermordung zu verurteilen“, schrieb der Politikwissenschaftler Tarik Abou-Chadi (Oxford University). Die Schuld für den Mord an Kirk gab die US-Rechte sofort „Linken“ und Demokraten, auch wenn es dafür keine Belege gibt. Das Tatmotiv des festgenommenen Tyler R. ist noch unklar.
Erste Hinweise zeigen einen jungen Mann aus einer mormonischen, konservativen Familie, der sich in extremen Internet-Subkulturen radikalisierte, die den wenigsten Mainstream-Beobachtern geläufig sein dürften. Die US-Rechte wähnt sich derweil im „Krieg”: Trump und andere stilisieren Kirk zu einem „Märtyrer“, seine Erhöhung legt den argumentativen Grundstein für autoritäre Maßnahmen gegen die Opposition und „Vergeltung“. Kirks Witwe, Erika Kirk, verkündet: „Das Weinen dieser Witwe wird wie ein Schlachtruf um die Welt hallen.“
Trump und seine Verbündeten suggerieren währenddessen, der Mord an Kirk sei das Ergebnis koordinierter Planung linker Organisationen – ohne jegliche Beweise. Der mutmaßliche Täter ist in Haft – doch MAGA wird Kirks Ermordung nutzen, um politischen Dissent zu unterdrücken. Die Zeichen stehen auf Eskalation – von Seiten der MAGA-Bewegung.
Artikelbild: Sathyam_19. Boedys Buch zu Kirk und 7 Mountains erscheint am 30. September, Titel: „The Seven Mountains Mandate. Exposing the Dangerous Plan to Christianize America and Destroy Democracy.“