Wie definiert man Antisemitismus?: Zur IHRA-Arbeitsdefinition und Jerusalemer Erklärung

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7. October 2025


Was genau ist Antisemitismus und wie erkennt man ihn?

(Quelle: Shutterstock)

Bei der Definition von Antisemitismus geht es nicht nur um Begriffe. Entscheidend ist, dass Definitionen Antisemitismus in all seinen Formen erkennbar machen müssen – um Jüdinnen*Juden wirksam zu schützen.

Antisemitismus bekämpfen: Wozu eine Definition?

Der zunehmende Antisemitismus bedroht jüdisches Leben. Seine Bekämpfung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Doch was genau ist Antisemitismus – und wie erkennt man ihn? Über die richtige Definition wird gestritten. Wir führen in diesen Streit ein und erklären zentrale Unterschiede zwischen zwei Definitionen: der „Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA) und der sogenannten „Jerusalemer Erklärung“ (JDA).

Dabei geht es nicht nur um Begriffe. Entscheidend ist, dass Definitionen Antisemitismus in all seinen Formen erkennbar machen müssen – um Jüdinnen*Juden wirksam zu schützen.

Antisemitismus ist mehr als Hass auf Jüdinnen*Juden. Er ist ein soziales, sich wandelndes Phänomen – ein ideologisches Weltbild, das tief in der Gesellschaft verankert ist. Oft tritt er verschlüsselt auf, vermischt mit Verschwörungserzählungen oder politischen Konflikten. Er passt sich an das Weltgeschehen an und bleibt doch im Kern gleich. Definitionen ersetzen keine Analyse. Aber sie helfen, handlungsfähig zu bleiben. Dafür müssen sie klar und präzise sein. Denn wie Antisemitismus definiert wird, bestimmt mit, was wir erkennen und bekämpfen oder übersehen und verharmlosen. Das hat konkrete Folgen für das Leben von Jüdinnen*Juden. In diesem Faltblatt zeigen wir, warum wir die IHRA-Definition für geeignet halten und die JDA nicht. Aus unserer Sicht ist die IHRA-Definition das wirksamere Instrument, um Antisemitismus zu benennen und zu bekämpfen.

Die Antisemitismus-Definition der IHRA

Die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus ist heute international anerkannt. In ihrem Kernsatz beschreibt sie Antisemitismus als eine „bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich in Hass ausdrücken kann“. Denn Antisemit*innen projizieren stereotype Bilder auf Jüdinnen*Juden. Dieser Hass kann sich auch gegen Menschen richten, die für jüdisch gehalten werden.

Die Definition enthält elf Beispiele, die helfen, aktuelle Formen des Antisemitismus zu erkennen – darunter auch den israelbezogenen Antisemitismus. Bei dieser Form des Antisemitismus werden klassische antisemitische Stereotype auf Israel als jüdisches Kollektiv übertragen. In besonders drastischer Form zeigt sich das, wenn dem Staat Israel das Existenzrecht abgesprochen wird und damit Jüdinnen* Juden in Israel das Selbstbestimmungsrecht. Dabei sagt die Definition explizit, dass eine Kritik an Israel, die vergleichbar ist mit jener an anderen Ländern, nicht antisemitisch ist.

Die IHRA-Definition zeigt: Der israelbezogene Antisemitismus trifft auch hierzulande reale Menschen, wenn etwa Jüdinnen*Juden in Deutschland

für Israels Politik verantwortlich gemacht und angegriffen werden.

Verabschiedet wurde die Definition 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Herausgearbeitet wurde die Definition in einem jahrelangen kollaborativen Prozess mithilfe verschiedener Holocaust-Expert*innen sowie der Europäischen Union und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Seitdem wurde sie von zahlreichen Staaten, internationalen Organisationen, Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen übernommen – darunter der Zentralrat der Juden in Deutschland, das American Jewish Committee oder Fußballvereine. Die IHRA-Definition hat weltweit geholfen, Antisemitismus sichtbarer zu machen, ihn konsequenter zu bekämpfen und damit Jüdinnen*Juden zu schützen.

Die Jerusalemer Erklärung (JDA)

Die „Jerusalemer Erklärung“ (JDA) wurde 2021 als Reaktion auf die IHRA-Definition veröffentlicht. Anders als die IHRA wird sie nicht von jüdischen Organisationen getragen, sondern wurde vor allem von Personen aus akademischen Kreisen entwickelt. Die JDA will nicht nur eine wissenschaftlich fundierte Antisemitismusdefinition sein, sondern verfolgt explizit auch ein anderes, politisches Ziel: Sie will, so steht es in der Definition, auch „Räume für eine offene Debatte über die Zukunft Israels/Palästinas“ wahren. Entsprechend betont sie, dass „Feindseligkeit“ gegenüber Israel „nicht per se antisemitisch“ sei.

Der Fokus der JDA liegt deshalb stark auf politischen Fragen – und nicht allein darauf, eine präzise Definition von Antisemitismus zu sein. In der Praxis wird die JDA deshalb auch meistens benutzt, um Antisemitismusvorwürfe abzuwehren und selten dazu Antisemitismus zu bestimmen.

Nach der Präambel enthält die Erklärung einen Kernsatz und Leitlinien. Hier gibt es ein weiteres Problem, denn der Kernsatz definiert Antisemitismus als „Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden“. Diese enge Definition entspricht einem überholten Verständnis, das Antisemitismus auf Vorurteile reduziert. Weltbildhafter Antisemitismus, antisemitische Verschwörungsideologien, codierte Feindseligkeit oder israelbezogener Antisemitismus werden mit diesem Kernsatz kaum erfasst. Für Bildung, Justiz oder Prävention ist die JDA deshalb kaum praxistauglich – und findet deshalb auch wenig Anwendung. Eine breite gesellschaftliche oder institutionelle Anerkennung fehlt. Jüdische Organisationen wie der Zentralrat der Juden in Deutschland oder der World Jewish Congress lehnen sie explizit ab.

Die JDA unter der Lupe: Drei Hauptprobleme

1. „Juden als Juden“?

Die Jerusalemer Erklärung (JDA) erklärt Antisemitismus nur dann als solchen, wenn sich Diskriminierung oder Gewalt explizit gegen „Juden als Juden“ richtet. Sie verkennt dabei, dass Antisemitismus oft gar nicht gegen konkrete Personen zielt, sondern auf eine imaginierte Gruppe – Stichwort: Verschwörungsideologien. Antisemitismus ist mehr als Ablehnung von Jüdinnen*Juden oder ihrer Religion. Er ist eine Ideologie, die „die Juden“ als homogene Gruppe konstruiert – verbunden mit widersprüchlichen Projektionen: Macht, Einfluss, Reichtum oder Kontrolle. Jüdinnen*Juden werden dabei zu Repräsentant*innen vermeintlicher Übel gemacht – etwa als „Zionisten“, „Globalisten“ oder „Weltverschwörer“. Diese codierten Feindbilder tarnen sich, wirken aber antisemitisch. Solche indirekten Formen blendet die JDA mit ihrem engen Fokus auf „Juden als Juden“ weitgehend aus – und verfehlt so zentrale Dynamiken des modernen Antisemitismus. Die IHRA-Definition ist hier analytisch präziser: Sie spricht von einer „bestimmten Wahrnehmung“ von Jüdinnen*Juden und erkennt so Antisemitismus als weltanschauliches Denkmuster.

2. „Identität & Intention“?

Die IHRA-Arbeitsdefinition fordert, den Gesamtkontext einer Aussage zu berücksichtigen. Die JDA ist auch in diesem Punkt unklar. Denn sie fordert, dass vor allem „Intention“ und „Identität“ der Sprecher*innen berücksichtigt werden müssen. Doch Antisemitismus wirkt unabhängig davon, was jemand „eigentlich meint“. In der Praxis könnten so antisemitische Taten – wie Rufe nach Vernichtung von „Zionisten“ oder Brandanschläge auf Synagogen mit Verweis auf Solidarität mit Gaza – relativiert werden. Das öffnet Verharmlosungen sowie Relativierungen Tür und Tor.

3. „Nicht per se antisemitisch“?

In den erläuternden „Leitlinien“ der JDA werden Beispiele aus dem Kontext des Nahostkonflikts aufgelistet, die „als solche antisemitisch“ bzw. „nicht per se antisemitisch“ sein sollen. Als „nicht per se antisemitisch“ werden zum Beispiel die „Ablehnung des Zionismus“, die BDS-Kampagne („Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“) sowie das Eintreten für Gleichberechtigung „vom Fluss bis zum Meer“ genannt. Damit wird auf die Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ angespielt. Hier wird deutlich, dass es weniger um eine präzise Definition von Antisemitismus geht, sondern darum, bestimmte politische Parolen zu legitimieren. Auch die kürzere Parole „Free Palestine“ ist zwar nicht „per se“ antisemitisch, in einigen Kontexten aber eben doch. Diese Möglichkeiten erläutert die JDA aber nicht. Das zeigt: Hier geht es nicht um eine präzise Antisemitismusdefinition und nicht um den Schutz vor Antisemitismus, hier wird vielmehr Freiraum für Entlastung geschaffen.

Die BDS-Kampagne und die Jerusalemer Erklärung

Beispiel 14 gibt der BDS-Kampagne, die sich seit 2005 für einen Boykott Israels, für den Abzug von (wirtschaftlichen) Investitionen und für Sanktionen gegen den jüdischen Staat einsetzt, einen Freifahrtschein: „Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.“ Kein Wunder, dass die BDS-Bewegung die JDA begrüßte. Aber: Diese Bewegung ist keine neutrale Protestkampagne, sondern wurde von einer Koalition gegründet, zu der auch Organisationen wie die Hamas gehören – eine islamistische Terrororganisation, die in ihrer Gründungscharta zur Vernichtung Israels aufruft und Gewalt gegen Jüdinnen*Juden verherrlicht.

Ein wesentliches Steuergremium ist bis heute das Palestinian BDS National Committee. Mitglieder in diesem Komitee sind u. a. die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), die Hamas und die Terrororganisation Islamischer Dschihad.

In vielen BDS-nahen Texten, Veranstaltungen und Kampagnen wird Israel delegitimiert, werden doppelte Standards angewandt und antisemitische Narrative reproduziert. Das Ziel ist häufig keine politische Reform oder Frieden, sondern die vollständige Auflösung Israels als jüdischer Staat – eine Forderung, die nicht gegen eine Regierung, sondern auf die Abschaffung des einzigen jüdischen Gemeinwesens weltweit zielt und sich damit gegen das Recht auf jüdische Selbstbestimmung richtet. Dieses antizionistische Motiv ist historisch eng mit antisemitischen Denkmustern verbunden. Die JDA blendet aus, dass das Bekämpfen jüdischer Staatlichkeit selbst ein Akt der Feindseligkeit ist – und ein zentrales Element

des gegenwärtigen Antisemitismus.

Eine große Leerstelle

Die Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus ist antisemitisch. Die JDA sagt dazu aber nichts. Die JDA erklärt in Beispiel 13, der Vergleich Israels mit anderen historischen Fällen sei nicht per se antisemitisch. Doch manche Vergleiche sind es sehr wohl – etwa die Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus oder Netanjahus mit Hitler. Solche Vergleiche äußern keine legitime Kritik, sondern bedienen ein antisemitisches Narrativ: Jüdinnen*Juden werden als das „Übel der Welt“ markiert. Diese Nazi-Vergleiche sind ein Ausdruck von Schuldabwehr-Antisemitismus – und weit verbreitet. Sie verharmlosen die NS-Verbrechen, indem sie das demokratische Selbstverteidigungsrecht Israels mit einem Vernichtungsregime gleichsetzen. Der Nationalsozialismus verfolgte Jüdinnen*Juden kompromisslos – nicht aus politischem Kalkül, sondern aus einer global ausgerichteten Vernichtungsideologie. Ziel war keine territoriale Kontrolle, sondern eine „judenfreie Welt“ – durch einen industriell organisierten Massenmord. Wer diese historische Realität mit israelischer Politik gleichsetzt, relativiert den Holocaust und reproduziert antisemitische Muster – im Gewand vermeintlicher „Israelkritik“.

Solche Vergleiche sind falsch, unangemessen und antisemitisch. Sie instrumentalisieren die Erinnerung an den Holocaust – und delegitimieren jüdische Selbstbestimmung.

Konsequenzen einer unklaren Benennung von Antisemitismus

Die JDA bleibt insbesondere im Umgang mit Formen von codiertem Antisemitismus sowie israelbezogenem Antisemitismus vage und trägt eher dazu bei, bestimmte Formen von Antisemitismus und Israelhass vom Antisemitismusvorwurf freizusprechen, statt ihn klar zu benennen. Dadurch entsteht ein gefährlicher Deutungsraum, in dem antisemitische Narrative verharmlost oder relativiert werden können. In Zeiten zunehmender antisemitischer Vorfälle ist jedoch eine präzise und praxistaugliche Definition unerlässlich – nicht nur zur klaren Einordnung, sondern auch als Grundlage für wirksame Konzepte, die sich gegen jede Form von Antisemitismus richten und die Betroffenen von Antisemitismus schützen.

Eine schwammige Definition erschwert die eindeutige Erkennung von Antisemitismus erheblich – und macht seine konsequente Bekämpfung

nahezu unmöglich.

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