24. October 2025
Am 24. Oktober 2010 wurde der damals 19-jährige Kamal Kilade in Leipzig ermordet.
(Quelle: picture alliance / ZB | Jan Woitas)
In den frühen Morgenstunden des 24. Oktober 2010 war Kamal Kilade, damals 19 Jahre alt, auf dem Nachhauseweg vom Feiern in Leipzig. Nahe dem Hauptbahnhof stieß er dabei auf die beiden Neonazis Marcus E. und Daniel K. Beide waren zum Tatzeitpunkt bereits polizeilich in Erscheinung getreten. Eine ZEIT-Autorin schildert die nachfolgenden Momente so: Kamal sei in Begleitung seiner Freundin und eines weiteren Freundes unterwegs gewesen. Nachdem Marcus E. und Daniel K. auf die drei aufmerksam wurden, sollen die beiden zuerst auf Kamals Freund eingeredet haben. Als Kamal hinzukam, um zu fragen, ob es Probleme gäbe, soll Daniel K. geantwortet haben: „Jetzt ja.“
Daraufhin soll dieser mehrfach mit der Faust auf Kamal eingeschlagen und ihn anschließend mit Pfefferspray attackiert haben. Marcus E., der später im Prozess als Haupttäter verurteilt wurde, fügte Kamal anschließend mit einem Klappmesser eine tödliche Stichverletzung in den Bauch zu. Nach Angaben seiner damaligen Freundin, die mit ihm unterwegs war, schleppte sich Kamal noch einige Meter in Richtung Richard-Wagner-Platz. Hier brach er schließlich zusammen.
Rassistisches Mordmotiv und Behördenversagen
Beide Täter konnten wenig später durch die Polizei unweit des Tatorts ausfindig gemacht werden. Schnell wurde klar: Beide entstammen der militanten Neonazi-Szene. Daniel K. soll mehrere Jahre lang in der „Kameradschaft Aachener Land“ (KAL) aktiv gewesen sein und wurde erst im Frühjahr 2010 aus einer mehrjährigen Haftstrafe entlassen. Ermittlungsbehörden konnten ihm damals seine Tatbeteiligung an einer Geiselnahme aus dem Umfeld der Kameradschaft nachweisen.
Marcus E. wurde sogar erst zehn Tage vor der Tat aus der Haft entlassen. Er hatte wegen Vergewaltigung in drei Fällen, schwerer Körperverletzung in fünf Fällen und Körperverletzung in zwei Fällen eine achteinhalbjährige Haftstrafe abgesessen. In dieser Zeit soll Marcus E. von der sogenannten „Hilfsgemeinschaft für nationale Gefangene“ unterstützt worden sein. Diese galt bis zu ihrem Verbot 2011 als zentrale Anlaufstelle für rechte Straftäter.
Trotz der Eindeutigkeit und der erdrückenden Erkenntnislage weigerte sich die Staatsanwaltschaft, den Mord als rassistisch motiviert anzuerkennen, und das, obwohl das Amtsgericht Leipzig am Tag nach der Tat Haftbefehl gegen die beiden Beschuldigten erlassen hat. Mit der Begründung, sie hätten Kamal Kilade aufgrund seiner „ausländischen Abstammung“ angegriffen.
Kurze Zeit später wollte man davon nichts mehr wissen. Stattdessen erklärte der verantwortliche Oberstaatsanwalt gegenüber der taz im Dezember 2010, es gäbe nach dem „bisherigen Stand der Ermittlungen keine Anhaltspunkte, dass die Tat fremdenfeindlich motiviert war“. Schließlich hätte das Opfer „perfekt Deutsch gesprochen“. Die neonazistische Vorgeschichte der beiden Angreifer reiche nicht aus, um von einer rassistischen Gesinnung im Kontext der Tat auszugehen.
Schon kurz nach dem Vorfall stufte die Staatsanwaltschaft Leipzig den Mordvorwurf auf Totschlag herab. Der Nebentäter, Daniel K., kam noch vor Weihnachten 2010 aus der Untersuchungshaft frei. Auch die Hausdurchsuchungen kurz zuvor zeigten ein widersprüchliches Bild: In der Wohnung von Marcus E. fanden Ermittler*innen „einschlägige Devotionalien“ der rechtsextremen Szene, während in Daniel K.s Wohnung lediglich ein paar Anstecker mit Neonazi-Motiven sichergestellt wurden. Erst später räumten Polizist*innen ein, dass sie dort ausschließlich nach verbotenen Symbolen gesucht hätten. Mögliche weitere Hinweise auf eine rechtsextreme Gesinnung blieben an diesem Tag unbeachtet.
Der Prozess endete im Juli 2011. Für das Landgericht stand fest: Der Mord geschah aus rassistischen Beweggründen. Der vorsitzende Richter fand im Urteil klare Worte: „Er betrachtete das Opfer nicht als einen Menschen, sondern als Ausländer, dessen Leben nichts wert ist. Das sind niedrige Beweggründe. Und deshalb ist es Mord.“ Aufgrund seiner starken Alkoholisierung zur Tatzeit, wurde Marcus E. anschließend zu 13 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt, Daniel K. wurde wegen gefährlicher Körperverletzung zu drei Jahren Haft verurteilt. Außerdem ordnete das Gericht einen Alkoholentzug für ihn an. Die Staatsanwaltschaft hielt bis zum Ende des Prozesses daran fest, kein „fremdenfeindliches Motiv“ feststellen zu können.
Die statistische Erfassung von rassistischen Morden
Anderthalb Jahrzehnte sind vergangen, seitdem Kamal Kilade ermordet wurde. Der Fall polarisiert auch heute noch extrem, auch weil immer noch einige rassistische Morde nicht offiziell als solche anerkannt werden. Die Amadeu Antonio Stiftung zählt noch immer „mindestens 221 Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung 1990 sowie 17 weitere Verdachtsfälle“. Offiziell werden allerdings nur 117 Tötungsdelikte „als rechts motiviert gewertet“.
Noch bis Anfang der 2000er Jahre gelang es den deutschen Sicherheitsbehörden kaum, rassistisch motivierte Gewalttaten als solche zu erfassen. Fälle, die in der Öffentlichkeit eindeutig als rechtsextrem oder rassistisch wahrgenommen wurden, tauchten in der offiziellen Statistik oft gar nicht auf. Erst 2001 wurde mit dem sogenannten Kriminalpolizeilichen Meldedienst für politisch motivierte Kriminalität (KPMD-PMK) ein System eingeführt, das es ermöglicht, solche Taten bundesweit einheitlich zu erfassen und auszuwerten. Ein Schritt, der allerdings erst auf massiven öffentlichen Druck hin erfolgte.
In den Jahren zuvor gab es zwar ab 1993 zumindest einen „Sondermeldedienst für fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten“, gänzlich statistisch erfasst wurden jedoch in der Regel nur Delikte, die mit einer mutmaßlich staatsgefährdenden Intention passierten. Auch deshalb ist die Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Todesopfern rechter Gewalt und jenen, die offiziell als solche anerkannt werden, nach wie vor so hoch.
Kamal wurde letztlich als Todesopfer rechter Gewalt offiziell anerkannt, sowie gerade mal 42 weitere Personen seit 2001. Die Amadeu Antonio Stiftung zählt für den gleichen Zeitraum insgesamt 103 Personen, inklusive neun Verdachtsfällen. Das zeigt: Die zuständigen Behörden scheitern auch noch heute im Umgang mit rechtsmotivierten Gewalttaten. Zu oft werden offensichtlich rassistische Denkmuster der Täter statistisch nicht erfasst.