8. Oktober 2025
Warum die Medienberichterstattung zum Merkel-Interview mal wieder das Thema verfehlt
Wieder mal fallen alle auf eine BILD-Lüge herein: Merkel gab kürzlich in einem Interview Putin die Schuld am Krieg in der Ukraine, BILD manipulierte wieder mal, sie hätte es Polen gegeben. Und alle schrieben wieder von dem Lügenblatt ab. Hier der Faktencheck und der tausendste Grund, diesem Medium nichts zu glauben, sondern die Originalquelle anzusehen:
Merkel hat in ihrem hörenswerten Interview niemand anderem als Putin die Schuld an der russischen Invasion in die Ukraine gegeben. Das geht klar hervor, wenn man sich das Interview auch tatsächlich anhört. Zahlreiche Medien titelten aber etwas anderes, sodass es quasi schon als „Fakt“ verbreitet wurde. Sogar polnische Politiker regten sich über die Berichterstattung auf. Das Interview selbst hatten sie offensichtlich gar nicht gesehen.
„Merkel gibt Polen Mitschuld an Putins Krieg“, titelte so Julian Röpcke für die BILD-Zeitung. Für Michael Maier von der Berliner Zeitung zieht gleich einen ganz anderen Schluss. Bei ihm heißt es: „Corona ist an Putin schuld“. Sie alle beziehen sich auf das Interview, das die ehemalige Bundeskanzlerin am 3. Oktober auf YouTube mit dem ungarischen Oppositionsmedium Partizán führte.
„Schuld“ verkauft sich medial eben gut. Gerade bei einer Person wie der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die wahlweise Schuld an allem ist, oder wie sie etwas selbstironisch resümierte:
„Wenn’s hilft, dann war ich eben schuld.“ Wenn Merkel also vermeintlich „Schuld“ ausspricht, dann kochen die Kommentarzeilen besser. Hat sie das aber getan?
Merkel betont gemeinsame Verantwortung
Merkel beschreibt im Interview Schwächen des Minsker Abkommens und benennt die Aggression Putins:
„Erlebt habe ich, dass im Jahre 2015 die Russen immer aggressiver in der Ukraine vorangekommen sind. Damals waren 6000 ukrainische Soldaten eingeschlossen in Debalzewe und damals haben François Hollande, der französische Präsident und ich entschieden, dass wir versuchen wollen, ein Abkommen zu schließen, und das war das Minsker Abkommen. Das war alles andere als perfekt, Russland hat sich an dieses Abkommen auch nie richtig gehalten, aber es hat eine Beruhigung herbeigeführt und zwischen 2015 und 2021 konnte die Ukraine Kraft sammeln, sie ist ein anderes Land geworden und damit konnte sie sich auch besser verteidigen.“
In der BILD-Zeitung wird stark emotionalisiert, verzerrt und zugespitzt: „Was Merkel nicht sagt: Dass Russland im Rahmen des Minsker Abkommens zwischen 2015 und 2021 mehr als 5000 ukrainische Soldaten getötet oder verwundet hatte, dass Putins Aggression gegen das Land keinesfalls erst nach ihrer Amtszeit ausbrach, sondern permanent anhielt und mit massiven Truppenverlegungen ab Frühjahr 2021 die Vollinvasion gegen die Ukraine vorbereitete.“ Offenbar hat in der BILD niemand das Interview gelesen.
Später hebt Merkel zudem hervor, anders als von Röpcke in der BILD impliziert:
„Im Juni [2021] habe ich gefühlt, dass das Minsk-Abkommen von Putin nicht mehr ernstgenommen wird“. Was bei Röpcke wie Täter- Opfer-Umkehr seitens von Merkel klingt, lässt sich im Interview mit ihr nicht in der Form nachvollziehen. Sie stellt klar: „Die Ukraine wurde überfallen durch Putin.“
Merkel betont gemeinsame Verantwortung
Wenn man Merkels außenpolitische Ausrichtung und ihr stark an Europa ausgerichtetes Handeln ein wenig versteht, dann könnte man die Aussagen der ehemaligen Kanzlerin im Interview als das verstehen, was sie sind: eine Beschreibung ihres damaligen Ringens innerhalb der ihr gegebenen politischen Umstände. Nicht umsonst weist Merkel sehr früh im Gespräch darauf hin: „Europa funktioniert immer nach dem Einstimmigkeitsprinzip.“
Die Zeit im „Frühjahr 2021“, die Merkel laut Röpcke im Interview angeblich nicht erwähnt haben soll, war laut ihr sogar Anlass für den Anlauf zu einer gemeinsamen Initiative der Europäischen Union, die aber laut Merkel keinen Erfolg hatte.
„[D]eshalb wollte ich ein neues Format, damals dann mit Präsident Macron, dass wir mit Putin direkt als Europäische Union sprechen und das wurde von einigen nicht unterstützt. Das waren vor allem die baltischen Staaten, aber auch Polen war dagegen, weil sie Angst hatten, dass wir keine gemeinsame Politik gegenüber Russland haben. Meine Meinung war: ‚Wir müssen dann eben daran arbeiten eine gemeinsame Politik zu haben.‘ Auf jeden Fall ist das nicht zustande gekommen. Ja, dann bin ich aus dem Amt geschieden und dann hat die Aggression Putins begonnen. Wir werden heute nicht mehr klären können was gewesen wäre: wenn.“, so Angela Merkel
Das Wort „Schuld“ taucht nicht auf
Darin kann man böswillig eine Schuldzuweisung erkennen, wenn man den kompletten Kontext ausblendet – oder man sieht darin eine Beschreibung aus ihrer damaligen Sicht auf die Situation. Was bei der BILD dabei völlig untergeht: Merkel stellt immer wieder klar, dass wir rückblickend nichts ändern können, sondern jetzt schauen müssen, wie wir mit der Situation umgehen. Im Interview taucht das Wort „Schuld“ auch gar nicht auf, wohl aber das Wort „Verantwortung“ und das beschreibt Merkels Weltsicht auf die internationalen Beziehungen wesentlich präziser, unabhängig von Fremdzuschreibungen jeglicher Art, wie Röpcke und andere sie in das Gespräch verpflanzen. Sie betont doch gerade, dass man nicht wissen könne, was gewesen wäre, wenn …
Es ist ein gelungener Spiegel, den Merkel da aufstellt, wenn sich plötzlich wutentbrannt Polens ehemaliger Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (PiS) zu Wort meldet und behauptet: „Angela Merkel hat mit ihrem gedankenlosen Interview bewiesen, dass sie zu den deutschen Politikern gehört, die Europa im letzten Jahrhundert am meisten geschadet haben“. Morawiecki selbst soll Ungarns autoritären Präsidenten Viktor Orban im vergangenen Jahr einen „Freund“ genannt haben. Könnte das der Grund dafür sein, dass er Merkels Interview mit einem ungarischen Oppositionsmedium in ein schlechtes Licht rücken möchte?
Corona als „Hauptgrund“?
In einem längeren Absatz des Interviews geht Merkel auf die möglichen Auswirkungen der Pandemie im Umgang mit Russland ein:
„Ich glaube das Corona einen großen Einfluss hatte. Hätte Putin die Ukraine überfallen, wenn es Corona nicht gegeben hätte und da sage ich in dem Buch: ‚Das kann keiner sagen‘, aber es ist klar, dass das Virus, das Coronavirus, die Weltpolitik verändert hat, denn wir konnten uns nicht mehr treffen. Putin hat sogar 2021 an dem G20-Gipfel nicht teilgenommen, weil er Angst vor der Coronapandemie hatte und wenn man sich nicht treffen kann, wenn man nicht Auge in Auge die Meinungsunterschiede austragen kann, dann findet man auch keine neuen Kompromisse mehr. Videokonferenzen haben dafür nicht ausgereicht, sodass ich glaube, dass Corona leider einen Einfluss darauf hatte. Ansonsten ist es Spekulation. Putin hat die Ukraine überfallen und damit hat sich unsere Lage in Europa und in der Welt verändert.“
Wenig später verdeutlicht Merkel dies jedoch und sagt: „Für mich ist Corona der Hauptgrund (…).“ Hier kann man Merkel dafür kritisieren, dass sie das, was sie zuvor als reine Spekulation eingeschränkt hat, plötzlich vereindeutigt. Ob nun „Hauptgrund“ oder nicht: Die Pandemie wird in einem Bündel von Ursachen ebenfalls eine Rolle gespielt haben.
Röpckes eigene Boulevardzeitung titelte im Frühjahr 2022 noch „Putins irre Angst vor Corona“ oder schrieb: „[V]or dem Corona-Virus hat Russlands Präsident Wladimir Putin (…) panische Angst“. Ende November 2020 berichtete Inna Hartwich für die Augsburger Allgemeine: „Putin hat Angst vor Corona und verschanzt sich im ‚Bunker‘“. Völlig aus der Luft gegriffen sind Merkels Behauptungen also nicht.
Diplomaten berichten gegenüber Wissenschaftlern, dass die „digitale Diplomatie“ während Covid die Präsenz bei Verhandlungen nicht ersetzen konnte, aber auch häufigere Meetings erlaubte. Man kann also nicht nur von Nachteilen sprechen.
Schwierig wird es aber dann, wenn von einem „Hauptgrund“ die Rede ist, denn wenn wir von Kausalitäten in den internationalen Beziehungen sprechen, finden wir i.d.R. immer ein Ursachenbündel.
Von der „Schuld“ zur Verantwortungsübernahme
Was bei der Berichterstattung zum Interview von Angela Merkel untergeht, sind zwei Aspekte: Erstens, ihr Aufruf jetzt Verantwortung für unser Handeln in Europa für die Ukraine zu übernehmen und das umzusetzen, was im Frühjahr 2021 mit hoher Wahrscheinlichkeit unrealistisch war, nämlich eine gemeinsame Stimme in der Europäischen Union im Umgang mit Putin zu finden. Und zweitens, wie sie scheinbar selbst versucht, Verantwortung zu übernehmen und sich dafür nicht zu fein ist, sich in ein Oppositionsmedium in Ungarn zu setzen.
Welche relevanten Politiker:innen hierzulande widmen sich aktuell eigentlich der Stärkung demokratischer Kräfte in der Europäischen Union, indem sie selbst so bereit sind, anzupacken? Man kann Merkel dafür kritisieren, dass sie zugleich auch Orban trifft, nur schließt der Dialog mit Orban nicht zwangsläufig die Auseinandersetzung und Stärkung demokratischer Kräfte in Ungarn aus. Eine solche verstärkte zivilgesellschaftliche, mediale wie politische Unterstützung des demokratischen Ungarns und der baltischen Staaten, wäre vielleicht allmählich dringend angeraten, wenn man mehr als nur das Blame-Game spielen kann und vielleicht auch möchte.
Die viel gewinnbringendere Frage lautet also nicht, welche „Schuld“ haben europäische Staaten, die deutsche Politik und jede:r Einzelne:r, sondern welche Verantwortung haben wir alle gegenüber der Ukraine und wollen wir diese auch wahrnehmen oder weiter Schwarzer Peter spielen? Das alles zusätzlich unter der Prämisse, dass die Ukraine am Ende des Tages natürlich als souveräner Staat und als Demokratie auch Verantwortung für sich selbst übernehmen können muss und gleichwertiger Partner ist. Schwarzer Peter, ob mit oder ohne Merkel-Bashing, spielt sich leichter, ändert aber auch nichts.
Wieder einmal fallen zahlreiche Medien und Politiker auf Lügen der BILD herein. Das eigentliche Interview prüft offenbar niemand, stattdessen wird blind von der BILD abgeschrieben. Der einzigen Person, der Merkel im Interview die Schuld gibt, ist Putin.
Titelbild: Screenshots von PartizanMedia und BILD