An der Grenze: Osman Oğuz

21. October 2025

Früher wurde hier gekocht, heute wird gewartet. Zehn Männer sitzen auf grün gepolsterten Stühlen neben der altmodischen Küchenzeile in einem provisorisch eingerichteten Zimmer. Mitgebracht haben sie stapelweise Unterlagen und Geduld. Durchzuhalten, das habe ihnen die Ausländerbehörde antrainiert. Ab und zu blickt einer aus dem Fenster oder geht zum Rauchen in den Hof. „In Bautzen, Freiberg oder Görlitz gibt es keine Asylverfahrensberatung“, bemerkt Osman Oğuz. Ratsuchende fahren deshalb mit der einzig möglichen Busverbindung stundenlang hierher nach Dresden. „Es kommen meistens doppelt so viele Menschen, wie wir beraten können“, erzählt er. „Die anderen müssen wir dann leider wegschicken.“

Die Beratungsstellen sind stark unterbesetzt und der Sächsische Flüchtlingsrat ist einer der wenigen Akteure. Seit 33 Jahren schon gibt es den Verein, er unterhält Standorte in mehreren Städten – und fordert, mit mehrsprachigen Angeboten auch in Unterkünfte gehen zu können. „Uns wird der Zugang verwehrt“, sagt Osman Oğuz. Also müssen Geflüchtete selbst ihren Weg zu den Hilfestellen finden. „Die Ausländerbehörde telefonisch zu erreichen, ist nicht möglich“, sagt einer der Beratenden. Die Menschen im Wartezimmer bestätigen das. Sie erleben im Asylverfahren einen großen bürokratischen Aufwand – dazu noch in einer fremden Sprache.


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Allein in Dresden arbeiten 15 Personen für den Flüchtlingsrat. Angespannt verfolgte das Team die zähen sächsischen Haushaltsdebatten im Sommer. Schließlich ist ihre Arbeit abhängig von Landesgeldern. „Wir haben es immer mit der Angst zu tun, ob, wann und inwieweit unsere Strukturen abgebaut werden.“ Es sei zwischenzeitlich um ihre Existenz gegangen, sagt Oğuz.

„Bei den integrativen Maßnahmen wollte die Regierung ursprünglich fast alles kürzen.“ Von 15 Millionen Euro aus 2024 sollten für Projekte in 2026 nur 2,5 Millionen bleiben. Dieser drastische Einschnitt wurde schließlich durch Verhandlungen im Landtag verhindert. So stehen aktuell gut sieben Millionen pro Jahr zur Verfügung. Auch bundesweit investiert die Bundesregierung 40 Prozent weniger in Integrationsleistungen als noch im Vorjahr.

Scharfe Migrationsdebatte

Für den Sächsischen Flüchtlingsrat geht es erstmal weiter, wenn auch mit weniger Geld. Dabei bräuchte es gerade jetzt, inmitten einer hart geführten Migrationsdebatte, Angebote, um die Anliegen Geflüchteter zurück in den Diskurs zu bringen. „Flucht ist Schnittstelle für die Krisen der Gegenwart“, schätzt Osman Oğuz ein. Kriege und auch die Klimakatastrophe führten meist zu Migration, ergänzt er. Stärkere Grenzkontrollen und härtere Asylverfahren würden daran wenig ändern, sondern nur weiter die Stimmung vergiften.

Mit Anfeindungen aus der direkten Nachbarschaft seien Geflüchtete besonders in ärmeren Vierteln konfrontiert. Dabei teilten die Menschen prinzipiell eine Lebensrealität. Oğuz schlägt vor, sich „zu verbünden“. Doch der Weg dahin ist weit, wahrscheinlich weiter als je zuvor. „Es gibt immer mehr Entrechtungen, mehr Asylrechtsverschärfungen, mehr Abschiebungen bei einer fast gleich gebliebenen Zahl der Flüchtlings-solidarischen Vereine.“ Demonstrationen für das Recht auf Asyl hätten in den letzten Jahren stark abgenommen. „Da sollten wir uns fragen, warum die solidarischen Ansätze gescheitert sind“, meint Osman Oğuz.

Als kurdischer Geflüchteter aus der Türkei hat er 2015 erleben müssen, wie Migration mit beschönigenden Phrasen romantisiert wird: „Da ist die Rede von Vielfalt oder den Vorteilen einer bunten Gesellschaft.“ Doch Betroffene erleben Flucht als einen Moment des Zwangs. Sich vertrieben zu fühlen, einsam zu sein, Gewalterfahrungen und traumatische Erlebnisse, das alles gehöre zur Realität vieler Geflüchteter. Sie leiden darunter, ihre Heimat, ihre Familie und ihre Habseligkeiten hinter sich lassen zu müssen.

Integration bedeute für Oğuz mehr als „Refugees welcome“. Eine Gesellschaft müsse auch dazu beitragen, dass Neuankommende sich organisieren und ihre Interessen selbst vertreten können. „Das Recht zu bleiben, muss mit dem Recht zu gehen verknüpft werden – hier wie dort“, findet Oğuz. Derselbe Slogan steht gedruckt an der Wand in einem der Dresdner Büros.

Bangen um den Aufenthalt

„Muss deine Frau neben Schilddrüsenmedikamenten auch Hormone einnehmen?“ Es sind Details wie diese, die über das Bleiberecht einer Person entscheiden können. Berater Fadi versucht, gesundheitliche Fakten zu sammeln und zu verstehen. Er hilft einem jungen Paar aus Venezuela dabei, gegen ihre Asylablehnung zu klagen. Es geht um Medikamenten-Armut. Eine ehrenamtliche Dolmetscherin übersetzt. Vor Gericht müssen die beiden jedoch allein klarkommen, einen Anwalt für Asylrecht zu finden, sei nur schwer möglich und teuer.

Zwischendrin klingelt das Telefon, ein Amt verlangt nach mehr Dokumenten. Mit der Beratung hängt Fadi schon eine halbe Stunde hinterher, dabei hat er kaum durchatmen können. Pause macht er nie, erzählt er. Kaffee und die Aufregung der Ratsuchenden würden ihn am Laufen halten. Kaum ist eine Person aus der Tür, ist schon die Nächste dran. Diesmal hat ein junger Mann die Ablehnung seines Asylverfahrens nicht erhalten, weil ihn die Post nicht erreicht hat.

(Foto: Franziska Kestel)

„Das passiert leider häufig“, bemerkt Fadi. Mit seinem Bürostuhl rollt er durch den Raum, vom Computer zum Beratungstisch, stellt parallel Fragen und erörtert nächste Schritte. Sie wollen Akteneinsicht beantragen und das Verfahren neu einsetzen. Der junge Mann massiert sich die Schläfen. Obwohl seine Augen Fadi aufmerksam folgen, wirkt er erschöpft. „Es ist nicht deine Schuld, dass du das Schreiben nicht bekommen hast, das BAMF hat einen Fehler gemacht“, beruhigt Fadi ihn auf Arabisch. BAMF, kurz für Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – es ist eine der wenigen Abkürzungen, die alle hier Versammelten auf Deutsch sagen können.

Für Osman Oğuz ist Berater Fadi „einer der bekanntesten Araber Dresdens“. Denn beinahe alle arabischsprachigen Menschen der Stadt würden ihn kennen. Entweder haben sie jemanden an ihn vermittelt oder sie waren selbst einmal bei ihm. Fadi verrät: „Ich gehe nicht mehr auf den Flohmarkt, da habe ich nie meine Ruhe.“ Aus Selbstschutz wurde sein Name für diesen Text verändert. Ständig werde er auf der Straße nach Rat gefragt. Bis zum nächsten Termin können die verzweifelten und erregten Menschen oft nicht warten.

Über verfahrene Verfahren

Jeden Dienstag und Donnerstag erklärt Fadi, wie ein Asylverfahren konkret abläuft. Und er hilft, mit einem Ablehnungsbescheid umzugehen oder begleitet Klageverfahren. Mittwochs ist sein Büro nur für Frauen geöffnet. „Die trauen sich wegen der zahlreichen Männer sonst leider manchmal nicht zu kommen.“ Viele der Ratsuchenden sind in einem Dublin-Verfahren. Ihnen droht also die Abschiebung in ein anderes EU-Land – häufig das, in dem die Behörden sie als erstes auf ihrer Flucht registriert haben.

Außerdem betreut der Flüchtlingsrat Menschen, deren subsidiärer Schutz ausläuft, weil sich die Lage in den Heimatländern beruhigt hat. Nach Kriegsende in Syrien zum Beispiel leitete die Bundesregierung Widerrufsverfahren ein. Noch ein Szenario, mit dem Fadi immer wieder konfrontiert ist, sind Anhörungen, in denen Geflüchtete nicht die Wahrheit ausgesagt haben. „Ein Kameruner hat verschwiegen, dass er homosexuell ist, obwohl das für sein Bleiberecht entscheidend ist“, erinnert er sich. In einem Rücknahmeverfahren konnte der Betroffene mit Fadis Hilfe sein Asyl doch noch erstreiten. Neben der inhaltlichen Begleitung schafft es Fadi, Witze zu machen und Badeseen in der Umgebung zu empfehlen.

(Foto: Franziska Kestel)

Osman Oğuz läuft derweil eine Tür weiter. Hier, im Haus nebenan, kümmern sich Beratende um Menschen, deren Bleiberecht oder Duldung wahrscheinlich ist. „Ankommende Arbeitskräfte sind durch den Abschiebungsdiskurs in Deutschland komplett unterdrückt und nicht in der Lage, ihre Rechte einzufordern.“ Migrantisierte Menschen im Niedriglohnsektor laufen Gefahr, „in einem prekären Teufelskreis gefangen zu bleiben“. Das zeigt der Sachverständigenrat für Migration und Integration in einer Studie. Oft werde ihnen so auch die Teilhabe erschwert.

Mit einem anderen Projekt vermittelt der Sächsische Flüchtlingsrat Geflüchteten eine Arbeit und Ausbildung. Dazu kooperiert der Verein mit Verwaltungen und Behörden. Julia Mahmoudi arbeitet als Arbeitsrechtsberaterin des Flüchtlingsrats. Viele Menschen, die zu ihr kommen, kenne sie schon länger. „Manchmal melden sich Leute nicht mehr und rufen dann aus ihrem Heimatland an, weil sie abgeschoben wurden“, erzählt Kollegin Ramona Sickert.

Wie undurchsichtig viele Abschiebungen verlaufen, ärgert das Team. Sie haben deshalb ein Monitoring gestartet, das Abschiebungen aus Sachsen dokumentiert. In einem anderen Modellprojekt wird auch versucht, Beratende mit Sachbearbeitenden der Ausländerbehörde zusammenzubringen, um Einzelfälle zu klären. Bisher laufe es gut, erzählt Ramona Sickert.

Die Grenzen in den Köpfen

Auf jedem Tisch in den Beratungszimmern steht eine Schale mit gelb-roten Kirschen. Doch beachtet werden sie kaum. Zu brisant sind die Dokumente, mit denen sich Julia Mahmoudi und ihr Gegenüber auseinandersetzen. Aus einer Plastiktüte zieht eine iranische Frau einen Stapel Papier. Nacheinander hakt die Beraterin ab, welche sie schon durchgegangen sind. „Meine Schwester und ich haben uns nicht getraut, deutsch zu sprechen, aber Julia hat es uns leichter gemacht und uns sehr geholfen“, meint die Iranerin. Eigentlich habe sie einen Abschluss in Agrartechnik, ihr letzter Job war aber bei einer Security-Firma am Kinderheim. „Mir ist egal, wo ich arbeite, Hauptsache Vollzeit, damit ich ein besseres Zuhause finde.“

„Ich will auf staatenlos plädieren, weil ich Kurde bin“, fasst Elihan zusammen. Auch er sucht Rat bei Mahmoudi. Falten kräuseln seine Stirn, die schwarzen Locken hat er zurückgebunden. Immer wieder erklärt ihm Mahmoudi, dass sein Vorhaben leider nicht funktionieren werde.

Das Amt habe sein Verfahren schon als iranischer Staatsbürger begonnen. Vielleicht könnte ein Schreiben von vor acht Jahren helfen. „Sie zweifeln daran, dass du in der Heimat wirklich verfolgt wurdest“, entnimmt Mahmoudi den Dokumentenstapeln. Niedergeschlagen gibt Elihan wieder, was ihm widerfahren ist: eine umzingelte Wohnung, Fenster als Fluchtweg, Hungerstreik, Verstecke in LKWs, 17 Länder, durch die er sich geschlagen hat.

„Sie sagen, Kurdistan gibt es nicht, sie haben Grenzen im Kopf und sind verrückt nach diesem Dokument, als könnten sie mich nicht auch anders kennenlernen.“ Sein deutscher Ausweis widerspreche seiner Identität, ärgert sich Elihan. Er sei weder Moslem noch Iraner und unter diesen Umständen möchte er kein Asyl. „Um hier akzeptiert zu werden, musst du lügen“, sagt er. „Ich will einfach sein, wer ich bin: Kurde.“ Er gibt nicht auf. Das zeigt auch sein T-Shirt. Ein Victory-Zeichen ist darauf gedruckt – doch mit der Zeit ist es schon leicht verwaschen.

Dieser Artikel ist am 21.10.2025 im Veto Magazin entschieden.

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