Gefängnistheater: Wenn Shakespeare Samba tanzt

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Datum
13 Oktober 2025
Im Gefängnis Berlin Tegel verwandeln Häftlinge Gewalt in Theater – und zeigen, wie Resozialisierung funktionieren könnte.

„Das grrroße Rom – die Hure der Konzerrrne“, donnert es über den Platz. Ein Mann reckt die Arme in den Himmel, sein Blick stechend, die Beine wie zwei Säulen eisern im Bühnenboden verankert. „Die Welt wirrrd unser sein, wir glaubten daran“, bellt der römische Kaiser, jedes Wort messerscharf, sein Paillettenrock glitzert in der Sonne wie eine Diskokugel. Hinter ihm ein Backsteingebäude, auf dem von Stacheldrahtzaun gesäumten Dach verfolgen ein paar Tauben das Spektakel: Shakespeares Titus Andronicus.

Was die 250 Zuschauer:innen hier auf der Freiluftbühne sehen, ist kein gewöhnliches Theater, sondern eine Aufführung der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel, Berlin. Häftlinge, die Kaiser, Soldaten, Mütter und Töchter spielen. Ein Stück über Intrige und Mord – und der Suche nach Gerechtigkeit. Seit 1997 existiert das AufBruch-Ensemble. Die Idee hatte der stellvertretende Direktor der Volksbühne Berlin, Roland Bruce, der zuvor für Theaterstücke mit Obdachlosen zusammenarbeitete.

Neben der JVA Tegel arbeitet AufBruch in der Jugendstrafanstalt Berlin, JVA Plötzensee und JVA Heidering. Sie spielen Brecht, Schiller, Shakespeare. Alle zwei Jahre gibt es Zuschüsse vom Justizsenat Berlin und seit 2009 eine Förderung vom Berliner Kultursenat. Das Projekt ist bundesweit die größte Theaterinitiative mit Häftlingen. Auch in einer chilenischen Haftanstalt und einer russischen Jugendstrafkolonie hat AufBruch schon Stücke inszeniert. 

Wahrscheinlichkeit psychischer Erkrankung fünfmal so hoch

Für H. Peter Maier C.d.F. – die geheimnisvolle Abkürzung ist ihm wichtig –, den Kaiser in Titus Andronicus, ist das bereits die siebte Produktion. Viele Häftlinge kommen und gehen. Maier bleibt. Er ist ein großer, kräftiger Mann mit Spitzbuben-Grinsen. Eigentlich wollte er gar nicht zum Theater. Aber man habe ihn unter der Dusche singen hören – und prompt gefragt, ob er nicht mitmachen wolle. Eine professionelle Schauspielausbildung hat er nicht. Doch auf der Bühne wirkt er routiniert, textsicher, selbstbewusst. Warum er im Gefängnis ist? Möchte er nicht sagen. Wann er rauskommt? „Bin fest engagiert“, sagt er im Schweizer Dialekt und zwinkert. Für seine Tat hat ihn die Schweiz des Landes verwiesen. Weil er auch den deutschen Pass hat, lebt er seit 15 Jahren im geschlossenen Vollzug in Tegel. Über die Straftaten der Häftlinge weiß AufBruch nichts. 

Der rachsüchtige Kaiser (H. Peter Maier C.d.F.) und seine Anhänger bei einem Festmahl. Foto: Thomas Aurin

Allein in Deutschland sitzen 58.000 Menschen in Gefängnissen. Der Tag startet um sechs Uhr: Frühstück, einige Stunden freiwillige Arbeit, Mittagessen, Freigang, Abendessen. „Haft bedeutet oft Klappe halten und Buße tun“, sagt der Regisseur von AufBruch, Peter Atanassow. Die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Erkrankung ist bei Häftlingen fünfmal so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung, etwa 80 Prozent leiden an Depressionen, bipolaren Störungen oder Schizophrenie. Fast jeder Zweite wird nach der Entlassung wieder straffällig. Nach der Statistik des Bundesjustizministeriums liegt die Rückfallquote nach drei Jahren bei 45 Prozent – nach zwölf Jahren sogar bei 66 Prozent.

— Johannes Fuß, Universität Duisburg

Chron…

Foto: Thomas Aurin

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