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„Wir gegen Die“: Wie Extremismus unsere Demokratie gefährdet

Quelle: CORRECTIV.Faktencheck!

„Die AfD distanziert sich seit jeher und in aller Klarheit von jeglicher Form des Extremismus“, heißt es in einem Statement vom 11. September 2018 auf der Webseite der Bundes-AfD. „Die AfD ist eine Rechtsstaatspartei. Die AfD steht uneingeschränkt zum Grundgesetz und verteidigt die freiheitlich-demokratische Grundordnung.“

Das klingt gut, doch was ist diese „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ (kurz „fdGO“) eigentlich genau?

Freiheitlich und demokratisch soll Deutschland sein

Der Begriff „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ stammt aus dem Grundgesetz (GG). Insgesamt achtmal kommt er darin vor. Eine richtige Definition wurde aber nie festgehalten. Zuletzt umriss 2017 das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die wesentlichen Punkte der fdGO im Verfahren um ein mögliches Verbot der rechtsextremen NPD. Nach dem BVerfG-Urteil sei entscheidend:

  • Die Garantie der Menschenwürde, festgehalten in Artikel 1 unseres Grundgesetzes, besagt, dass die Menschenwürde dem Menschen durch seine bloße Existenz zu eigen ist – deshalb kann sie auch niemandem genommen werden. Jeder Mensch ist vor dem Gesetz gleich. Dies „zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.
  • Das Demokratieprinzip sichert jeder Bürgerin und jedem Bürger das Recht zu, gleichberechtigt, uneingeschränkt und frei seine Meinung bilden und Volksvertreter wählen zu können.
  • Das Rechtsstaatsprinzip umfasst die Gewaltenteilung und garantiert, dass sich jeder – auch der Staat selbst – an Recht und Gesetz halten muss.

Wenn eine Partei Gewalt anwendet, heißt es in dem Urteil des BVerfG, oder wenn sie „in regional begrenzten Räumen eine ‘Atmosphäre der Angst’ herbeiführt, die geeignet ist, die freie und gleichberechtigte Beteiligung aller am Prozess der politischen Willensbildung nachhaltig zu beeinträchtigen“, dann wäre das verfassungswidrig und würde ein Verbot der Partei rechtfertigen.

Schauen wir uns die Punkte mal genauer an. Es gibt etliche Beispiele, die hier im Falle der AfD angeführt werden könnten. Wir beschränken uns auf den konkreten Punkt der Remigration und auf die Reaktionen, die unsere Veröffentlichung der Geheimplan-Recherche ausgelöst hat.

Die Würde des Menschen …

Im Mai dieses Jahres, etwa vier Monate nachdem das Geheimtreffen in der Nähe von Potsdam bekannt geworden war, beschloss das Oberverwaltungsgericht Münster (OVG) in einem Berufungsverfahren, dass die AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall beobachtet werden darf. Das Gericht sehe Anhaltspunkte dafür, dass „die AfD Bestrebungen verfolgt, die gegen die Menschenwürde bestimmter Personengruppen sowie gegen das Demokratieprinzip gerichtet sind“, heißt es in dem Urteil. Damit hat das OVG direkten Bezug auf die Remigrationsdebatte genommen, die unsere Recherche zu dem Geheimtreffen ausgelöst hatte. Unter anderem hatten sich AfD-Politiker mit Rechtsextremen getroffen und über Pläne diskutiert, Millionen deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund aus dem Land zu vertreiben. Das Gericht sah den begründeten Verdacht, dass zumindest ein maßgeblicher Teil der AfD das Ziel habe, „deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund nur einen rechtlich abgewerteten Status zuzuerkennen“.

Demnach sind für die AfD Deutsche nicht gleich Deutsche. Sie kategorisiert in Staatsbürger erster und zweiter Klasse. In Menschen, die die Staatsbürgerschaft in ihren Augen verdient haben – und in die anderen. Und wenn das eine Partei in ihrer politischen Zielsetzung tut, ist das lupenreine Diskriminierung und verletzt die Menschenwürde, die in Artikel 1 unseres Grundgesetzes festgehalten ist.

Nach der Veröffentlichung unserer Recherche hat die AfD ihre Remigrationspläne nicht einmal geleugnet. Im Gegenteil: Sie hat sie ausdrücklich bekräftigt, mit ihr kokettiert und Posts abgesetzt – unter anderem mit dem Hashtag „Team #Remigration“. Sie hat klare Fronten gezogen.

Und sie haben zum Gegenangriff geblasen.

Angriff auf die freie Presse

Sechs Tage nach unserer Veröffentlichung spricht Alice Weidel von einem „der größten, ungeheuerlichsten Medien- und Politikskandale der Bundesrepublik Deutschland“. Damit meint sie aber nicht das Geheimtreffen und die Ergebnisse unserer Recherche, sondern den vermeintlichen Angriff auf die AfD. Weidel spricht von „DDR-Methoden“, „Gesinnungskontrolle“, einer „beispiellosen Verleumdungskampagne“, die die „Hilfs-Stasi CORRECTIV“ aus „unglaublichen Lügen, Verleumdung und übelster Nachrede“ konstruiert habe.

Übersetzt heißt das: Die investigative Arbeit einer unabhängigen Presse, die essenzieller Bestandteil einer gesunden Demokratie ist, wird in Weidels Logik zur staatlich finanzierten Hetzkampagne gegen Oppositionelle und Andersdenkende (in diesem Falle synonym mit der AfD), wie es sonst nur in Diktaturen der Fall ist. Journalisten werden diskreditiert, Fakten geleugnet und damit eine demokratische Debatte unmöglich gemacht. Und mehr noch.

„Schmutzwerfer und linke Extremisten“, schreibt die AfD auf diversen Kanälen, „die unter dem Deckmantel des Journalismus ihre Propaganda verbreiten, müssen in ihre Schranken gewiesen werden!“

„In ihre Schranken gewiesen werden“ – was heißt das? Ist das schon ein Angriff auf die freie Presse, wie sie in Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt wird?

Journalismus stellt in einer Demokratie die „vierte Gewalt“. Journalismus hat eine Kontrollfunktion. Kritisch und unabhängig sorgt er für Transparenz und deckt Missstände in der Gesellschaft und den Institutionen auf, damit Bürgerinnen und Bürger sich eine Meinung bilden und mündig Demokratie leben können. Dazu gehören Korruption und Hinterzimmerdeals, geheime Absprachen und persönliche Vorteilsnahmen – alles, was sonst im Verborgenen bliebe. Ohne Journalismus kann keine Demokratie funktionieren. Er liefert Fakten, auf deren Basis der gesellschaftliche Dialog geführt wird. Das ist sein Sinn und Zweck.

Und damit hat die AfD scheinbar ein Problem. Seit gut einem Jahrzehnt baut die Partei eine radikale rechte Gegenöffentlichkeit auf, in der die Partei die Deutungshoheit hält. Sie polarisiert und kultiviert in ihren Statements und Social-Media-Posts eine generelle „Wir-gegen-Die“-Mentalität: gegen die Ausländer, gegen das vermeintliche Establishment, gegen die Grünen und eine woke Diktatur. Es gibt keine Grautöne, nur Schwarz oder Weiß. Entweder ist man für die AfD oder gegen sie. Und die Partei wird nicht müde, gegen „Lügenpresse“ und „Mainstream Medien“ zu hetzen.

Am 24. Januar 2024, zwei Wochen nach dem Erscheinen unserer Geheimplan-Recherche, veröffentlicht AfD-Politikerin Beatrix von Storch auf der Plattform X unsere Redaktionsadresse.

Eine Atmosphäre der Angst

„Nach Veröffentlichung unserer Geheimplan-Recherche belagerten drei Männer einen Tag lang unser Büro und beobachteten uns“, sagt CORRECTIV-Chefredakteur Justus von Daniels. „Sie filmten unser Bürogebäude und die ein- und ausgehenden Mitarbeitenden. Es war nicht das erste Mal, dass Unbekannte mit Kameras aufgekreuzt sind. Auch in digitaler Form erreichen uns täglich Nachrichten wie diese: ,Bitte tut Deutschland einen gefallen und begeht Selbstmord‘ oder ,werden uns mal ein paar von euch Ratten schnappen und entdärmen!‘“

Über Monate hatten wir verschärfte Sicherheitsvorkehrungen, unsere Redaktionszugänge mussten permanent abgeschlossen sein, wir sollten nicht allein nach Hause, wir hatten mehrere Schulungen mit dem LKA. Ein CORRECTIV-Kollege, der als Reporter undercover in Potsdam war, wurde im Netz mit Namen und Foto von der AfD bloßgestellt. Natürlich blieb das nicht ohne Konsequenzen für ihn. Veranstaltungen besucht er seitdem nur noch mit Personenschutz.

„Menschen greifen uns an, weil wir ihnen mit unseren Recherchen oder Faktenchecks unbequem werden“, sagt von Daniels. „Manche werden aggressiv, weil sie Journalistinnen und Journalisten als Feinde ihres Weltbildes sehen. Sie versuchen uns einzuschüchtern, um ihre Meinung durchzusetzen – in Form von hasserfüllten Nachrichten, diffamierenden Berichten oder juristischen Attacken, die nur darauf abzielen, Zweifel zu säen.“ Er betont: „Wir lassen uns nicht einschüchtern.“

Denn Journalismus bedeutet – um sich an den Spiegel-Gründer Rudolf Augstein zu halten – „zu sagen, was ist“. Journalismus kontrolliert „die da oben“, die Mächtigen. Wenn aber aus Angst Selbstzensur zum Selbstschutz wird, dann kommt der Journalismus nicht mehr seiner Aufgabe nach. Dann ist das ein Angriff auf die Grundfesten unserer Demokratie.

Von dieser „Atmosphäre der Angst“ ist nicht nur der Journalismus betroffen.

Die Gewalt nimmt zu

Extremistische Ideologien und Denkmuster erreichen immer stärker die Mitte unserer Gesellschaft und bedrohen die demokratischen Grundwerte, erklärt Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Extremismus polarisiert durch extreme Haltungen und Statements und stützt sich oft auf Verschwörungen statt Fakten. Es zählt nur der eigene Standpunkt, andere Positionen werden nicht akzeptiert. Wenn kein Austausch mit anderen Meinungen stattfindet, geht ein Grundprinzip der Demokratie verloren. „Wir müssen aufpassen, dass sich entsprechende Denk- und Sprachmuster nicht in unsere Sprache einnisten“, sagt Haldenwang.

Das gesellschaftliche Klima hat sich seit Corona deutlich verändert. Die Anfeindungen gegenüber Politikerinnen und Politiker haben in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Allein die Angriffe auf Abgeordnete des Bundestages haben sich von 2019 mit 1.420 Fällen zu 2023 mit insgesamt 2.790 Fällen nahezu verdoppelt. Auch Politiker auf Landes- und kommunaler Ebene fürchten immer häufiger um ihre Sicherheit, wie eine MDR-Recherche für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zeigte. Aggressionen gegen Ehrenamtliche und Einsatzkräfte haben in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Ähnlich ergeht es Lehrerinnen und Lehrern.

„Was wir sehen, ist ein kontinuierlicher Anstieg von Angriffen verbaler Art, Attacken aus den sozialen Medien“, sagt der Politikwissenschaftler und Demokratieforscher Wolfgang Merkel. „Und wir sehen tatsächlich auch eine Zunahme physischer Gewalt.“ Rechte Parteien wie die AfD sieht Merkel als „Treiber von Polarisierung, von Radikalisierung, von Verrohung im politischen Spiel“. Verantwortlich seien vor allem „deren Ränder, die sich aus diesem Milieu hin zur physischen Gewalt radikalisieren“. Diesen Rechtsdrift und diese Radikalisierung könne man nicht nur in Deutschland beobachten, sondern auch in ganz Westeuropa und den USA.

Wenn der gesellschaftliche Dialog zersetzt wird, wenn Austausch und gemeinsame Lösungen unmöglich werden, macht das eine Demokratie am Ende handlungsunfähig. Dann sind wir nicht mehr in der Lage, die großen Probleme anzugehen und zu lösen.

Das spielt den Feinden der Demokratie in die Hände.

„Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.“
Artikel 21 (2) GG

Zu den Feinden der Demokratie zählt Wladimir Putin. Der russische Präsident baut seine Einflusssphäre in Europa stetig aus. Der Kreml streut Desinformation und Propaganda und stärkt extremistische Parteien. Die AfD profitiert davon und spielt wiederum dem Kreml mit ihrer Politik in die Hände. Welchen Plan Putin verfolgt, wie und warum er Parteien wie AfD und BSW unterstützt, lesen Sie in den ersten beiden Teilen unserer Begleitserie zum neuen CORRECTIV-Sachbuch „Europas Brandstifter: Putins Krieg gegen den Westen“.

Die Serie: Putins langer Krieg gegen den Westen

„Europas Brandstifter – Putins Krieg gegen den Westen“ liefert einen Überblick zum Konflikt zwischen Russland und Europa. (Foto: CORECTIV)

Das Buch „Europas Brandstifter: Putins Krieg gegen den Westen“ erscheint am 16.10.2024 im CORRECTIV.Verlag. Es bündelt die Russland-Recherchen des gemeinnützigen Medienhauses CORRECTIV aus den vergangenen zehn Jahren und setzt sie in Bezug zu aktuellen Entwicklungen. Wir haben alte Stasi-Akten zu Putins frühen Jahren in Dresden ausgewertet, das Lobbynetzwerk um Gazprom mit seinen Verstrickungen bis tief in die deutsche Politik transparent gemacht und über Russlands Verrohung berichtet: Über die Korruption im Justizsystem, über die Gewalterziehung in der Armee und die Kriegsverbrechen russischer Soldaten.

„Europas Brandstifter: Putins Krieg gegen den Westen“ stellen wir auf der Frankfurter Buchmesse vom 16. bis zum 20. Oktober 2024 vor. Am Samstag, 19. Oktober 2024, blicken CORRECTIV-Reporter Marcus Bensmann und Jean Peters zurück auf die Auswirkungen ihrer Potsdam-Recherche und stellen sich der Frage, was die Wahlergebnisse im Osten für unsere Demokratie bedeuten werden?

Alle Infos zu der Veranstaltung finden Sie hier.

Das Buch „Europas Brandstifter: Putins Krieg gegen den Westen“ können Sie hier vorbestellen.

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