14. November 2025
Die Wikipedia-Alternative Grokipedia verspricht Objektivität, bleibt aber intransparent, spart an Belegen und setzt deutliche Bewertungen.
(Quelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Algi Febri Sugita)
Ein neues Nachschlagewerk beansprucht die Wahrheit für sich. Seit dem 28. Oktober ist Grokipedia online, Elon Musks angeblich neutrale Alternative zu Wikipedia. Der Anspruch ist maximal: „Die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit“, endlich objektiv und fernab von ideologischen Verzerrungen. Gleichzeitig diffamiert Musk Wikipedia als „Wokipedia“, als linkslastig, als unzuverlässig.
Grokipedia fügt sich in Musks Vision einer „Everything App“ ein und erweitert das Ökosystem von X. Die Oberfläche wirkt schlicht und technisch, entscheidend sind die Inhalte. Version 0.1 umfasst zum Start mehr als 885.000 Einträge, bislang ausschließlich auf Englisch. Nach Angaben von Musks KI-Unternehmen xAI generiert und „prüft“ der hauseigene Chatbot Grok die Texte aus online verfügbaren Vorlagen und Informationen.
Viel mehr ist nicht bekannt, denn die Plattform bleibt intransparent. Recherchen verweisen auf teils wörtliche Übernahmen aus dem eigentlich kritisierten Wikipedia. Es fällt jedoch auf, dass Grokipedia mit deutlich weniger Quellen arbeitet als das Original. Auch sprachliche Veränderungen sind unübersehbar: mehr wertende Formulierungen, mehr Behauptungen, weniger Kontext. In einigen Fällen zeigt sich eine klare Gewichtung zugunsten rechter und rechtsextremer Deutungen. Zwar können Nutzer*innen Fehler melden, eine offene Bearbeitung ist jedoch nicht vorgesehen. Damit bricht Grokipedia mit den Grundprinzipien von Wikipedia: kollaboratives Arbeiten, klare Quellenregeln und offene Diskussionen. Grokipedia ersetzt transparente Verfahren durch Versprechen.
Der Chatbot Grok ist kein neutrales Tool. Im Mai verbreitete der Bot Falschinformationen über einen angeblichen „weißen Genozid“ in Südafrika. xAI sprach von einer nicht autorisierten Eingabe und gelobte Besserung. Wenig später folgte der nächste Skandal: Im Juli relativierte Grok in seinen Antworten den Holocaust. Wieder hieß es, ein „Programmfehler“ sei dafür verantwortlich. Beide Fälle zeigen, wie anfällig KI-gestützte Systeme für Verzerrungen sind. Und wie wichtig öffentliche Kontrolle ist, schließlich geht es um die Deutung unserer Realität.
Alte Idee, neuer Hebel
Rechtsalternative Gegen-Enzyklopädien sind nicht neu. Schon 2006 ging der Wiki-Klon „Conservapedia“ online. Initiiert wurde er von Andrew Schlafly, dem Sohn der Antifeministin und politischen Aktivistin Phyllis Schlafly, die in den 1970er und 1980er Jahren erfolgreich gegen das „Equal Rights Amendment“ mobilisierte und damit die Verankerung der Gleichberechtigung in der US-Verfassung verhinderte. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Conservapedia Feminismus als „eine zerstörerische Ideologie, die Frauen und Männer voneinander entfremden kann“ definiert. Wie Musk warf auch Andrew Schlafly Wikipedia eine linke Schlagseite vor und präsentierte Conservapedia als Gegenangebot. Im deutschsprachigen Raum wirbt „WikiMANNia“ derweil explizit mit „feminismusfreiem Wissen“. Das rechtsextreme Onlineprojekt definiert Feminismus als „Bevorzugung“ von Frauen und mobilisiert gegen Gleichstellung. Die Linie ist klar: Wissensräume verengen, Deutungen verschieben.
Diese Projekte konnten sich bisher nie wirklich durchsetzen, ihr Wirken war auf einen kleinen Raum begrenzt. Ihnen fehlte es an Reichweite außerhalb der eigenen reaktionären Szene. Es gab zu wenig Vernetzung, Sichtbarkeit in Suchmaschinen und Medienpräsenz. Die Inhalte blieben Nischenprodukte und wurden hauptsächlich in einschlägigen Foren geteilt. Ohne starke Kooperationspartner, klare Schnittstellen und anhaltende Aufmerksamkeit blieben die Gegenangebote unbedeutend.
Mit Grokipedia verändert sich die Ausgangslage. Elon Musk vereint Diskursmacht und Reichweite, Künstliche Intelligenz ermöglicht Massenproduktion und schnelle Aktualisierung, ein „Fact-checked“-Label sorgt für Glaubwürdigkeit. So gewinnt ein altes Konzept neue Schlagkraft und die Gefahr einer nachhaltigen Verschiebung nach Rechtsaußen steigt.
Gender als Mobilisierungsfeld
Wie das inhaltlich greift, lässt sich mitunter beim Themenfeld Gender nachvollziehen. Antifeministische und queerfeindliche Erzählungen bilden schon lange eine Brücke von der extremen Rechten in konservative, teils auch liberale Milieus. Sie wirken weniger menschenfeindlich als etwa Rassismus und senken so die Einstiegshürde. Der Kern bleibt derselbe: eine behauptete natürliche Ungleichheit der Menschen, die Gleichstellung delegitimiert und Minderheitenrechte relativiert. So entstehen Deutungsräume, in denen Ausgrenzung als vermeintlich vernünftige Option erscheint.
Grokipedia nimmt dieses Framing auf, ohne plump zu wirken. Hier liest sich der Feminismus-Eintrag zunächst wie aus dem Lehrbuch: Feminismus wird als sozialpolitische Bewegung und Denktradition beschrieben, die gleiche Rechte und Chancen für Frauen und Männer anstrebt und historisch auf den Abbau rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligungen von Frauen gerichtet ist. Es folgen Wellenmodell, Errungenschaften, Prozentzahlen. Gegen Ende der Einleitung kippt der Ton jedoch: „Empirical critiques“ behaupten, Feminismus unterschätze biologische Unterschiede. Es werden Kausalitäten zwischen feministischer Politik und Scheidungsraten suggeriert. Das erscheint zunächst nüchtern, verschiebt den Schwerpunkt aber spürbar. Kein wütender Ausbruch, sondern eine sorgfältig kuratierte Verlagerung – mit gefährlichen Implikationen.
Das gleiche Muster zeigt der Eintrag zu Gender. Grokipedia eröffnet mit „Gender refers to the binary classification of humans as male or female based on biological sex.“ Wikipedia führt ein mit „Gender is the range of social, psychological, cultural, and behavioral aspects of being a man (or boy), woman (or girl), or third gender.“ Zwei Definitionen, die den Rahmen abstecken: hier Biologie als Maß aller Dinge, dort gelebte Rollen und Identitäten. Grokipedia erklärt daraus einen Konflikt zwischen harten Daten und angeblicher Ideologie. Wissenschaft und Medien gelten pauschal als voreingenommen. Das ist Rhetorik, keine vermeintlich wertfreie Analyse. Rollen, Identitäten und Erfahrungen sind empirisch erfassbar, nur mit anderen Methoden. Wer Definitionen so eng setzt, produziert zwei scheinbar unvereinbare „Wahrheiten“ und verschiebt damit den Rahmen des Sagbaren.
Hier kippt Terminologie in Kulturkampf. Wer Geschlecht auf Biologie reduziert, bietet eine Steilvorlage für Scheindebatten über Fairness und Sicherheit. Schnell geht es dann um Ausgrenzung im Sport, strenge Regeln für „Schutzräume“ und Misstrauen gegenüber der medizinischen Versorgung. Wird „Biologie“ zur einzigen Wahrheit, geraten die Rechte von Frauen* und queeren Menschen unter Druck, ebenso demokratische Prinzipien. Es geht nicht um definitorische Feinheiten, sondern um Macht. Wer die Begriffe definiert, setzt die Grenzen.
Konsequenzen für Demokratie und offene Wissensräume
Musk wirbt mit Objektivität. Aber Objektivität ist kein Zustand, sondern ein Prozess, durch den wir gemeinsame Referenzen entwickeln. Korridore der Wahrheit, in denen wir uns bewegen. Sie entstehen durch transparente Quellen, reproduzierbare Methoden und sichtbare Korrekturen. Die Sozialwissenschaften sprechen dabei von Validität und Reliabilität. In allen empirischen Disziplinen sichern Peer-Reviews die Qualität. Gemeint ist die unabhängige Fachprüfung vor der Veröffentlichung, bei der externe Expert*innen Methode, Daten und Schlussfolgerungen prüfen. Zusammen mit offenem Datenzugang und Reproduzierbarkeit macht das Aussagen nachvollziehbar. Genau diese Verfahren fehlen Grokipedia. Was bleibt, ist ein Autoritätsversprechen.
Dieser Ansatz funktioniert so gut, weil der Ton meist gemäßigt bleibt. Viele Einträge beginnen wie aus einem Lehrbuch und schaffen Vertrauen. Dann verändern Akzentverschiebungen die Gewichtung. Kontroversen erscheinen als Ausgewogenheit, Kritik als „Voreingenommenheit“, Biologie als letzte Instanz. So entsteht der Eindruck von Neutralität, während Deutung stattfindet. Das ist die Strategie: Objektivität beanspruchen, Verfahren verbergen, Deutungshoheit erlangen.
Die Folgen reichen über einzelne Artikel hinaus. Enzyklopädien mit großer Reichweite prägen Suchergebnisse, Wissenstransfer und Debatten. Wo offene Korrekturmechanismen fehlen, verfestigen sich systematische Ungleichgewichte zulasten der Betroffenen. Auch Wikipedia hat teils gravierende Lücken und Defizite, macht diese aber zumindest sichtbar und damit grundsätzlich korrigierbar. Geschlossene, KI-gestützte Systeme tun dies nicht in gleichem Maße. Hinzu kommt, dass KI menschengemacht ist, auf vorhandenen Daten aufbaut und von den Schieflagen ihrer Quellen durchdrungen ist. Künstliche Intelligenz kann helfen, einordnen, komprimieren und strukturieren. Objektiv ist sie nie. Ist der Prozess um sie herum nicht transparent, verstärkt KI nur das, was ohnehin schon dominiert. Das kann je nach Plattform oder Ökosystem eine diskriminierende Politik sein.
Demokratien brauchen gemeinsame Bezugspunkte. Diese entstehen durch transparente, überprüfbare Prozesse. Durch Debatten, die auf Fakten und Normen basieren. Sie wahren Minderheitenrechte und berücksichtigen Komplexität. Wo diese Arbeit untergraben wird, zerbricht das Vertrauen. Wo das Vertrauen zerbricht, wächst der Spielraum für autoritäre Versprechungen.
Kurz gesagt: Wer Deutungshoheit will, fertigt zuerst die Schablone und erklärt alles außerhalb zur Gefahr. Wer Teilhabe will, macht den Prozess sichtbar, akzeptiert Ambivalenzen und lässt die Wirklichkeit komplex sein.